Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
schwersten Vorwürfe.
Die Gralsbruderschaft hat inzwischen mit ihrer Zeremonie begonnen, obwohl Jongleur sich über das Ausbleiben seines Dieners Dread ärgert. Jongleur und der Technokrat Robert Wells erläutern den besorgten Gralsmitgliedern noch einmal, daß eine direkte Geistesübertragung ins Netzwerk nicht möglich ist. Vielmehr werden Kopien von ihnen, virtuelle Doppelgänger, deren Innenleben dem ihren über lange Zeit in jeder Einzelheit angeglichen wurde, online zum Leben erwachen. Doch damit es von jedem Bruderschaftler nur eine Version gibt, müssen sie ihre physischen Leiber ablegen, sprich töten. Jongleur, Wells, der Finanzier Jiun Bhao und der amerikanische Brigadegeneral Daniel Yacoubian haben jedoch nicht vor, die Zeremonie im ersten Durchgang wirklich mitzuvollziehen, sondern wollen deren Gelingen abwarten und zunächst nur so tun, als begingen sie leiblich Selbstmord und erweckten ihre virtuellen Körper. Da die anderen Mitglieder der Bruderschaft darüber nicht im Bilde sind, lassen sie sich schließlich überzeugen.
Doch Dread hat mit dem Otherlandnetzwerk andere Pläne. Er hat sich vorgenommen, gewaltsam wieder dort einzudringen, und dies versucht er nun mit Hilfe von Dulcy Anwin und einer Kopie, die er von dem als Zugangsgerät dienenden Feuerzeug angefertigt hat. Er stößt dabei auf den brutalen Widerstand des Sicherheitssystems, des sogenannten Andern, doch im Laufe ihres Kampfes – bei dem Dread sein telekinetisches Talent einsetzt, von ihm als sein »Dreh« bezeichnet – entdeckt er, daß es im Netzwerk Funktionen gibt, die dazu geeignet sind, dem Andern so etwas wie Schmerz zuzufügen, Funktionen, mit denen die Gralsbruderschaft das intelligente Betriebssystem gezwungen hat, sich ihrem Willen zu beugen. Dread benutzt diese Schmerzfunktionen, um den Andern grausam in die Flucht zu schlagen. Jetzt kann er als Sieger das gesamte Netzwerk beeinflussen und sogar lenken.
Renie, Paul, !Xabbu und die übrigen bahnen sich einen Weg durch die untergehende Stadt. Als Paul Emily erblickt, die seit längerem schon mit Renie und den anderen zieht, erkennt er in ihr zu seiner maßlosen Verblüffung eine weitere Version seiner Engelfrau. Plötzlich schießt ihm ein Name – »Avialle« – in den Kopf, und er wird von jähen Erinnerungen überflutet.
Er weiß jetzt wieder, daß er seinerzeit bei Felix Jongleur in dessen Unternehmenssitz, einem Hochhaus in Louisiana, als Hauslehrer beschäftigt war. Und ihm fällt auch die erste Begegnung mit seiner Schülerin ein. Jongleurs Tochter Avialle. Doch dann versagt sein Gedächtnis erneut.
Obwohl sie allem Anschein nach von jemandem verfolgt werden, dringen sie in einen verlassenen Tempel ein und gelangen auf unheimlichen Wegen zu einem Altar in der Mitte eines Labyrinths. Dort erscheint ihnen die Engelfrau abermals und erklärt ihnen, daß sie zu spät kommen – sie habe nicht mehr die Kraft, sie an den vom Andern bestimmten Ort zu versetzen. Paul bietet an, ihr alles zu geben, was sie dafür braucht, ohne zu ahnen, was daraufhin geschieht. Die Engelfrau holt sich die Lebenskraft von Emily, die nur eine Art Kopie von ihr war, und kann damit das Gateway öffnen. Paul, Renie und die übrigen treten hindurch auf einen Pfad an der Flanke eines ungeheuren und völlig unwirklichen schwarzen Berges. Sie marschieren zum Gipfel und stoßen dort auf einen gefesselten Riesen, der langgestreckt in einem weiten Tal liegt. Der Riese leidet schreckliche Schmerzen, doch er singt ein Lied über einen Engel. Martine erkennt das Lied. Dreißig Jahre zuvor hat sie es im Pestalozzi-Institut, wo sie ihr Augenlicht verlor, einem sonderbaren Kind vorgesungen.
Der leidende Riese tut ihnen nichts, sondern öffnet ein Fenster, durch welches das virtuelle ägyptische Königsgrab zu sehen ist, in dem Jongleur und die übrige Bruderschaft soeben mit der Zeremonie beginnen. Einige Mitglieder zögern noch, doch einer von ihnen, ein Mann namens Ricardo Klement, unterzieht sich dem Prozeß und wird allem Anschein nach zur allgemeinen Zufriedenheit in seinem neuen, jungen, virtuellen Körper wiedergeboren. Freudig vollziehen die anderen daraufhin die Zeremonie und töten auf unterschiedliche Weise ihre Körper, um online aufzuerstehen, doch obgleich sie physisch sterben, bleiben die virtuellen Körper leblos. Jongleur und die anderen drei werden verschont, weil sie die Zeremonie nicht wirklich durchlaufen haben, aber sie sind entsetzt. Irgend etwas Schwerwiegendes muß passiert
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