Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
bestand nur noch aus den wirbelnden Einzelteilen eines Weltentstehungschaos.
»Du bringst ihn um!« hatte sein Engel geschrien und war dabei selber in eine Million Geisterbilder auseinandergeflogen, ein Heer von schreienden Scherben, jede ein winziger schillernder Regenbogen …
Doch im Augenblick dieser Zertrümmerung kam ihm ein neues Stück seiner Vergangenheit zurück. Es begann mit einer jäh aufblitzenden Vision – ein Haus umgeben von einem Park, der Park seinerseits umschlossen von einem Wald. Über den Himmel trieben dunkle Wolkenfetzen, durchschossen von strahlenden Sonnenpfeilen, an Gräsern und Blättern hing der Perlenschmuck eines frisch niedergegangenen Regens. Licht funkelte in den Wassertropfen und zerlegte sich in viele leuchtende Farben, so daß die Bäume in einem Feenland zu stehen schienen, dem Zauberwald eines Kindermärchens. In den Zehntelsekunden, bevor der Erinnerungsstrom breiter und tiefer wurde, konnte er sich kein friedlicheres Idyll vorstellen.
Aber es war natürlich wieder einmal alles sehr viel komplizierter.
> Der Aufzug fuhr so schnell und sanft, daß Paul Jonas zeitweise beinahe vergaß, daß er in einem großen Turm lebte, daß seine allmorgendliche Fahrt nach oben ihn knapp dreihundert Meter über das Mississippidelta hinaushob. Er hatte noch nie etwas für hohe Gebäude übrig gehabt – eine der vielen Hinsichten, in denen er sich nicht recht in sein Jahrhundert gehörig fühlte. An seinem Haus in Canonbury hatte ihm nicht zuletzt die altmodische bescheidene Größe gefallen – drei Geschosse, ein paar Treppen. Im Falle eines Brandes hatte er eine reelle Chance, aus dem Haus herauszukommen (redete er sich jedenfalls ein). Wenn er die Fenster seiner Wohnung aufmachte und auf die Straße hinunterblickte, konnte er Leute reden hören und sogar sehen, was sie in ihren Einkaufskörben hatten. Ganz anders jetzt: Wenn man einmal von den Stürmen absah, deren Heulen in der Hurricanezeit am Golf von Mexiko selbst durch das dicke Fibramic zu hören war und die eine solche Gewalt hatten, daß sie den mächtigen Turm tatsächlich leicht zum Schwanken brachten, hätte er ebensogut in einem intergalaktischen Raumschiff leben können. Wenigstens bis er den Teil des Gebäudes erreichte, in dem er täglich seiner Verpflichtung als Hauslehrer nachkam.
Die Fahrstuhltür glitt auf, und er stand vor der nächsten Sperre. Paul gab seinen Code ein, legte die Hand auf das Lesefeld und wartete dann etliche Sekunden, in denen der Handleser und andere weniger offensichtliche Kontrollmechanismen arbeiteten. Als die Sicherheitstür mit einem leisen Sauggeräusch zur Seite wich, stand Paul vor einer grünen Waldlandschaft, an deren Anblick er sich immer noch nicht ganz gewöhnt hatte. Auf einem gewundenen Fußweg begab er sich rasch zum Haus seiner Schülerin und klopfte dort an eine Tür, die genauso antiquiert wirkte wie das ganze Haus. Ein Dienstmädchen ließ ihn mit kurzem Gruß ein, und sofort wehte der Geruch des Hauses ihn an, eine Mischung von Düften, die derart stark eine andere Zeit heraufbeschworen, daß es ihm fast den Atem verschlug – Lavendel, Silberpolitur, Bettlaken in dunklen Holztruhen. Jeden Morgen vollzog er diesen Übergang aus der glatten, reibungslosen Effizienz der Gegenwart in eine Atmosphäre, wo man sich wie in einem Museum oder gar einer Gruft gefühlt hätte, wenn die quicklebendige junge Bewohnerin nicht gewesen wäre.
Sie erwartete ihn nicht im Salon. Ihre Abwesenheit verdutzte ihn, und auf einmal kam ihm das ganze Ritual wieder genauso hirnverbrannt vor wie in seinen ersten Wochen. Er warf einen Blick auf die Zeigeruhr aus Glas und Messing, die auf dem Kaminsims stand. Eine Minute nach neun, aber keine Ava. Er fragte sich, ob sie vielleicht krank war, und wunderte sich ein wenig, wie besorgt ihn dieser Gedanke machte.
Eines der Stubenmädchen mit weißer Haube und Schürze huschte lautlos wie ein Gespenst draußen auf dem Flur vorbei, einen Stapel zusammengelegter Tischtücher auf dem Arm.
»Entschuldigung!« rief er. »Ist Fräulein Jongleur noch im Bett? Sie hat sich zum Unterricht verspätet.«
Das Stubenmädchen sah ihn erschrocken an, als ob er allein durch sein Sprechen gegen eine ehrwürdige Tradition verstoßen hätte. Sie schüttelte kurz den Kopf, und weg war sie.
Nach einem halben Jahr wußte Paul immer noch nicht, ob die Hausangestellten gelernte Schauspieler oder einfach nur sehr verschroben waren.
Er klopfte an die Schlafzimmertür,
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