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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dann noch einmal, lauter. Als sich niemand meldete, drückte er vorsichtig die aufgeklinkte Tür auf. Der Raum, halb Boudoir, halb Kinderzimmer, war leer. Auf einem Regal saßen etliche Puppen in einer Reihe, und ihre stummen Porzellangesichter starrten ihn mit großen, glasigen, langwimperigen Augen an.
    Auf dem Rückweg durch den Salon fiel sein Blick in den gerahmten Spiegel über dem Kaminsims. Der unscheinbare Mann, den er darin sah, war nach einer Mode gekleidet, die seit weit über einem Jahrhundert nicht mehr aktuell war, und ging durch einen überladenen Raum, der aussah wie einer Zeichnung von Tenniel entsprungen. Ein leiser Schauder durchlief ihn. Ganz kurz, aber bestürzend klar hatte er das Gefühl, daß er im Traum eines anderen gefangen war.
     
    Es war natürlich bizarr, sogar ein wenig beängstigend, aber dennoch mußte er immer wieder staunen, wieviel Erfindungsgeist darin eingeflossen war. Der Blick von der Haustür über den Ziergarten mit seiner kunstvollen Komposition von Hecken und Wegen und weiter auf den Wald dahinter war genauso, wie er ihn vor dem Landsitz einer wohlhabenden französischen Familie des späten neunzehnten Jahrhunderts erwartet hätte. Daß der Himmel darüber nicht real war, daß Regen und Morgennebel von einem ausgeklügelten Sprinklersystem erzeugt wurden, daß der Wandel des Tageslichts von Morgen zu Abend und das Ziehen der Schäfchenwolken beleuchtungskünstlerische und holographische Vorspiegelungen waren, dies alles verstärkte den Zauber eher noch. Aber der Gedanke, daß dieses ganze Anwesen fast ausschließlich für eine einzige Person im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers gebaut worden war, als eine abgeschottete Zeitkapsel, in der die Vergangenheit, wenn schon nicht wirklich zurückgeholt, so doch lebensecht simuliert wurde, war einigermaßen verstörend.
    Es ist wie in manchen Märchen, dachte er, und keineswegs zum erstenmal. Die Art, wie sie hier oben ihr Leben fristen muß. Wie die Frau des Riesen in diesem Märchen mit der Bohnenranke oder … wer war die Prinzessin mit dem langen Haar? Rapunzel?
    Er durchforschte ein Weilchen den Garten, dessen strenge, altmodische französische Anlage durch einen natürlicheren, freieren Einfluß gemildert wurde, der von Vernachlässigung kaum zu unterscheiden war und der ihm aus irgendeinem Grund englisch vorkam. Es gab mehrere Stellen, wo die hohen Hecken Bänke verbargen, und Ava hatte ihm erzählt, daß sie sich manchmal gern mit einer Näharbeit hinaussetzte und dabei dem Gesang der Vögel lauschte.
    Wenigstens die Vögel sind echt, dachte er, während er zusah, wie ein paar über seinem Kopf von Ast zu Ast schwirrten.
    Die gewundenen Wege waren alle leer. Eine leichte Panik stieg in Paul auf, doch sie war wider alle Vernunft: Ein unvorhergesehenen Gefahren weniger ausgesetzter Mensch als Avialle Jongleur war kaum vorstellbar, dafür sorgten die perfekteste Überwachungsanlage, die es überhaupt gab, und die allgegenwärtige Privatarmee ihres Vaters. Doch sie hatte den morgendlichen Unterricht noch nie unentschuldigt versäumt oder sich auch nur dazu verspätet. Ihre Zeit mit Paul schien der Höhepunkt ihres Tages zu sein, obwohl er sich nicht schmeichelte, daß das an irgendwelchen überragenden Qualitäten seinerseits lag. Das arme Kind hatte schlicht herzlich wenig Gelegenheit, andere Menschen zu sehen.
    Er bog von den mit Kies bestreuten Wegen auf den schmalen Trampelpfad in den Obstgarten ab, an den sich »das Wäldchen« schloß, wie Ava es nannte. Der Boden wurde hier so uneben wie im richtigen Gelände, und die Pflaumen- und Wildapfelbäume, die den Garten säumten, wurden erst von Birkengruppen abgelöst und dann von Eichen und Erlen. Sie standen so urwaldartig dicht, daß man beim Zurückschauen das Haus nicht mehr sehen konnte und wenigstens die Illusion ungestörter Abgeschiedenheit hatte, wobei Paul allerdings von Finney in einem seiner überaus deutlichen Vorträge belehrt worden war, daß sich die Überwachung überallhin erstreckte. Dennoch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er eine unsichtbare Grenze überschritten hatte: In dieser Entfernung vom Haus rückten die Bäume eng zusammen und war der falsche Himmel nur durch einzelne Lücken hoch oben im Laubwerk zu erkennen. Selbst die Vögel blieben in den höheren Regionen. Der Platz wirkte weltentrückt. Paul hatte Mühe, seine Märchenimpressionen von vorher aus dem Kopf zu verbannen.
    Er traf sie neben dem Bach im Gras sitzend an.

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