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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Koma sein? überlegte sie. Ist das hier eine Art Konzentrationslager für alle Kinder, die der Andere entführt hat? Wenn ja, dann waren die Aussichten, Stephen zu finden, denkbar schlecht: Allein in den Schuhen mochten sich gut und gern etliche tausend aufhalten, und wie viele noch in den anderen Kleidungsstücken in den Bergen steckten, war gar nicht abzusehen.
    »Bist du das, Steinmädchen?« rief eine Stimme, die in der Wölbung der Schuhkappe leicht widerhallte. »Du kommst zu spät und hast mir Kummer gemacht. Es herrschen unsichere Zeiten. Sowas kann ich nicht dulden.«
    Eine dunkle Gestalt saß in einem Schaukelstuhl neben dem Kamin. Ein gemauerter Schornstein stieß an der Decke durch das Schuhleder, aber ohne großen Nutzen. Zuerst dachte Renie sogar, der Rauch überall wäre schuld, daß die Figur im Schaukelstuhl kaum zu erkennen war, doch dann ging ihr auf, daß der menschenähnliche Umriß selbst nebulös war – die vage Andeutung von Schultern und einem Kopf auf einem Körper, der formlos war wie eine graue Wolke. Wo die Augen hätten sein sollen, spiegelten zwei schimmernde Punkte den Feuerschein, doch ansonsten war kein Gesicht auszumachen. Die Stimme war zwar leise und hauchig, aber klang weder weiblich noch freundlich. Es war mit Sicherheit keine Version der »Alten Frau im Schuh«, die Renies Erwartungen entsprach.
    »Ich … ich hab den Wutschbaum finden wollen, Stiefmutter«, sagte das Steinmädchen. »Weil alles so schlimm ist. Ich wollte ihn fragen …«
    »Nein! Du kommst zu spät. Das dulde ich nicht. Und du hast eine mitgebracht, die nicht hierhergehört. Die Straßen sind auch so schon voll von Leuten, die ihr Zuhause verloren haben. Wieso schleppst du noch eine an? Wir haben nichts abzugeben.«
    »Aber sie hatte sich verlaufen. Einer von den Schnören wollte …«
    Der rauchige Leib der Stiefmutter verfestigte sich einen Moment lang. Die Augen blitzten. »Du warst unartig. Das muß bestraft werden.«
    Schlagartig fiel das Steinmädchen hin und wand sich weinend am Boden. Die anderen Kinder sahen schweigend zu, die Augen weit aufgerissen.
    »Laß sie in Ruhe!« Renie tat einen Schritt auf das gestürzte Steinmädchen zu, da durchfuhr sie etwas wie ein Stromstoß, ein jäher, peitschender Schmerz, der sie neben dem Kind auf Hände und Knie niederstreckte.
    »Die da gehört nicht hierher«, sagte die Stiefmutter herrisch. »Zu groß, zu anders. Sie muß weg.«
    Renie hob den Kopf; ihr Mund bewegte sich, doch kein Ton kam heraus. Obwohl ihre Glieder noch zuckten, kroch sie mühsam ein Stückchen weiter. Die Stiefmutter starrte sie an, dann schoß der nächste Schmerzschub Renies Rückgrat hinauf und explodierte in ihrem Kopf, daß ihr schwarz vor Augen wurde.
    Undeutlich nahm sie wahr, wie sie von vielen kleinen Händen hochgehoben wurde. Als diese sie wieder ablegten, war sie unendlich dankbar, nicht mehr weitergetragen zu werden, doch als sie es den Kindern sagen wollte, reichte es nur zu einem Röcheln. Die Erde an ihrem Gesicht war kühl und feucht, ganz ähnlich der Hand des Steinmädchens, und sie blieb willenlos liegen, bis ihre Arme und Beine endgültig ausgezuckt hatten.
    Als sie imstande war, sich hinzusetzen, befand sie sich auf einer dunklen Straße inmitten riesiger Schuhe, so daß sie hätte meinen können, in den hintersten Winkel eines gigantischen Schuhschranks geschleudert worden zu sein. Aus einigen Behausungen drang noch Licht, aber die Türen waren alle geschlossen. Selbst die Lagerfeuer dazwischen waren anscheinend hastig gelöscht worden, doch sie spürte, wie die schweigenden Obdachlosen sie mit Furcht und Mißtrauen beobachteten.
    Okay, dachte sie deprimiert. Die Tracht Prügel wäre nicht nötig gewesen. Ich merke schon, wenn ich nicht erwünscht bin.
    Ein dünnes Heulen tönte von den Höhen ins Tal hinab. Renie erschauerte. Sie wußte nicht, was sie jetzt, ausgestoßen und ohne Ortskenntnis, machen sollte.
    Sie stolperte die gewundene Hauptstraße entlang, als eine Gestalt aus dem Dunkel trat.
    »Ich bin weg.« Das Steinmädchen klang sehr kleinlaut.
    Renie konnte es nicht sicher sagen – eigentlich konnte sie nichts mehr sicher sagen –, aber es hatte den Anschein, als wäre etwas Wichtiges geschehen.
    »Du bist … weggelaufen?«
    »Die Stiefmutter wird immer fieser. Und sie hört mir gar nicht zu, wenn ich ihr vom Auslöschen erzählen will.« Das Steinmädchen gab ein eigenartiges Geräusch von sich, ein breiiges Schnauben. Renie begriff, daß es weinte.

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