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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sehr ein Teil der Landschaft geworden, daß sie kaum noch auffielen, aber andere ragten fast ganz aus der Erde heraus, so daß es durch die Ösen und durch Schlitze in den Sohlen schimmerte. Es waren Dutzende, wenn nicht Hunderte. Eine ganze Stadt.
    »Es sind Schuhe! Große Schuhe!«
    »Hab ich dir doch gesagt.«
    Als sie sich ein wenig an das Licht gewöhnt hatte, sah Renie, daß auch die Freiräume zwischen den Schuhen von zahlreichen schattenhaften Gestalten bevölkert waren, die sich um Lagerfeuer drängten und nahezu schweigend beobachteten, wie Renie und das Steinmädchen vorbeigingen. Trotz ihrer Wortlosigkeit wirkten sie nicht bedrohlich. Die Augen, die sie anstarrten, die Stimmen, die hie und da wisperten, machten einen Eindruck von Müdigkeit und Verzweiflung.
    Es ist wie ein Flüchtlingslager, dachte Renie.
    »Sonst wohnen hier draußen keine Leute«, erklärte das Steinmädchen. »Aber sie haben ihr Zuhause verloren, als das Auslöschen kam. Mittlerweile sind es ganz viele, und sie haben Hunger und Angst…«
    Es wurde von einer Horde kreischender Gestalten unterbrochen, die aus dem häuslichen Durcheinander eines riesigen Wanderschuhs auf sie zugestürzt kamen. Renies panischer Schreck legte sich, als sie erkannte, daß es nur Kinder waren. Die meisten waren noch kleiner als das Steinmädchen und entsprechend lebhaft und ausgelassen.
    »Wo bist du gewesen?« schrie das vorderste. »Die Stiefmutter ist vielleicht fuchtig!«
    »Ich hab jemand gefunden.« Das Steinmädchen deutete auf Renie. »Da hat der Heimweg ein Weilchen gedauert.«
    Die Kinder scharten sich aufgeregt plappernd um sie. Renie hatte zuerst angenommen, es wären die Geschwister des Steinmädchens, aber in dem Licht, das aus der Türöffnung des nächsten Schuhes schien, erkannte sie, daß keines ihrer Führerin ähnlich sah. Die meisten glichen eher normalen Menschen, auch wenn ihre Kleidung (sofern sie überhaupt welche hatten) von einer Art war, die sie nicht kannte. Einige jedoch aus dem Schwarm lachender Kinder sahen noch grotesker aus als das Steinmädchen: eines war gelbschwarz bepelzt wie eine Hummel, ein anderes hatte Entenfüße, und ein Mädchen hatte zu Renies Entsetzen sogar ein großes Loch in der Mitte, so daß von seinem Oberkörper kaum etwas übrig war.
    »Sind das … deine Brüder und Schwestern?« fragte sie.
    Das Steinmädchen zuckte mit den Achseln. »Mehr oder weniger. Von uns gibt’s viele. So viele, daß ich manchmal denke, die Stiefmutter kommt nie zur Ruh.«
    Da erblickte Renie vor sich einen kolossal hohen Schuh und blieb wie angewurzelt stehen. »Lieber Gott!« murmelte sie. »Jetzt ist mir alles klar.«
    »Komm mit«, sagte das Steinmädchen und nahm Renie an der Hand. Seine Finger waren rauh und hatten die kühle Feuchte eines lehmigen Waldbodens. Ein kleiner Junge mit dem Kopf eines Hirschkalbs sah mit scheuen, glänzenden braunen Augen zu Renie auf, als hätte er gern ihre andere Hand ergriffen, aber Renie bemerkte es gar nicht, weil sie von ihrem plötzlichen Geistesblitz abgelenkt war. »Natürlich, es ist aus diesem alten englischen Kinderreim – ›Eine alte Frau wohnte in einem Schuh / Mit so vielen Kindern, sie kam nie zur Ruh.‹« Und noch eine andere Erinnerung regte sich ganz leise in ihr, aber sie war so perplex darüber, sich in einer altertümlichen Kinderbuchwelt zu befinden, daß sie sie nicht zu fassen bekam.
    »Wir wohnen alle in Schuhen«, erklärte ihre Führerin und zog sie durch eine Tür auf der Hinterseite des ausgedienten, bemoosten Stiefels. »Na ja, alle hier in der Umgebung …«
    Es war ein sehr, sehr alter Schuh. Zu Renies Erleichterung hingen keine Geruchsspuren seines früheren riesenhaften Besitzers mehr im Raum. Zwei- oder dreimal so viele Kinder, wie ihnen draußen entgegengekommen waren, warteten im verräucherten Feuerschein, und auch diese Stubenhocker waren ein buntgemischter Haufen. Sofern sie Augen hatten, beobachteten sie gebannt, wie das Steinmädchen Renie über das lange Fußbett zur Kappe führte. Es waren viel zu viele, um sie alle vorzustellen, aber ein paar rief das Steinmädchen mit Namen an, hauptsächlich um sie aufzufordern, aus dem Weg zu gehen – wobei Renie nur »Däumling«, »Himpelchen«, »Gretel« und »Sumsemann« verstand. Über etliche mußte sie hinwegsteigen, und ein paarmal trat sie unabsichtlich auf eines drauf, aber keines beschwerte sich. Vermutlich waren sie das bei ihren beengten Verhältnissen gewöhnt.
    Können das die Kinder im

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