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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dreidimensionale Ordnung und Stabilität, die es den Bewohnern gestattete, sich auf ihrem heimischen Territorium sicher zu bewegen, doch sobald man die vertraute Umgebung verließ, gab es anscheinend keine festen, im Gedächtnis verankerten Strecken zu anderen Orten in der Welt mehr, auch dann nicht, wenn die Bewohner vorher schon einmal dort gewesen waren.
    So gesehen hatte sich das Steinmädchen recht wacker mit ihren Fragen herumgeschlagen, auch wenn diese ihm, wie Renie jetzt begriff, vollkommen abwegig vorkommen mußten. »Man … findet den Wald einfach«, erklärte es noch einmal. »Er ist so lange immer vor dir, bis du die nötige Zeit gegangen bist, und dann hältst du Ausschau.«
    »Ausschau? Wonach denn? Nach … bestimmten Formen? Bäumen, die man schon mal gesehen hat?«
    Das Steinmädchen zuckte mit den Achseln. »Einfach nach … Sachen, die einem sagen, daß der Wald irgendwo in der Nähe ist. Wie das da zum Beispiel.« Sie deutete auf einen Felsen, der im Licht des großen Mondes senkrecht aus dem Buschwerk am Hang aufragte.
    »Der Felsen da?« Der fahl angeleuchtete steinerne Finger war so lang wie ein Lastwagen – gewiß ein ziemlich auffälliges Wahrzeichen. »Heißt das, du hast ihn früher schon mal gesehen?«
    Ihre Führerin schüttelte den Kopf, sichtlich um Geduld bemüht. »Nein. So Felsen gibt’s viele. Aber heute nacht ist er ein waldnaher Felsen.«
    Jetzt war es an Renie, den Kopf zu schütteln. Offensichtlich verfügte das Kind über Kenntnisse, die ihr verborgen waren. Vielleicht empfing es Hinweise, die Renie nicht erreichten, oder vorprogrammierte Informationen übersetzten sich als spontanes Erkennen. Was es auch war, Renie verstand es nicht. Und wenn es vorprogrammiert war, hatte sie ohnehin keine Chance.
    Das Steinmädchen ging jetzt bergauf durch das Gestrüpp voran, und zum Schutz gegen Kratzer zog Renie die Decke fest um sich und versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, in einer solchen Welt zu leben. Aber wie kann ich hoffen, da je durchzublicken? Ich kann mich ja nicht mal weit genug in !Xabbu hineinversetzen, um mir eine Kindheit und Jugend wie seine vorzustellen, die Fremdheit, die das normale städtische Leben für ihn hat, und dabei ist er ein lebendiger Mensch wie ich, kein künstliches Konstrukt.
    Das Bewußtsein, von ihm getrennt zu sein, schnitt ihr wieder ins Herz, diesmal aber begleitet von einer Resignation, die sie sonst nicht von sich kannte. Ist es sowieso zwecklos? überlegte sie. Meine Gefühle für ihn sind so stark, ich hab solche Angst, daß wir hier nicht zusammen rauskommen – aber wenn doch, was dann? Selbst wenn wir überleben, wie sollen wir ein gemeinsames Leben führen? Wir sind so verschieden. Außer den paar Sachen, die er mir erzählt hat, weiß ich nichts über seine Herkunft, über die Lebensweise seines Volkes. Was würde seine Familie von mir halten?
    Mit zunehmender Mutlosigkeit verlangsamten sich ihre Schritte. Sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung.
    Ich weiß immer noch nicht, ob die Personen in dieser Welt – das Steinmädchen, Smonkin – wirklich die verschollenen Kinder sind. Aber es könnte durchaus sein. Vielleicht hat der Andere sie alle hierhergeholt, ihr Bewußtsein, ihren Geist, was weiß ich. Sie fühlte einen Schauder, der nicht von der kühlen Nachtluft kam. Ihre Seelen.
    Und wenn Stephen hier in dieser Welt ist, wie soll ich ihn dann finden? Wie soll ich ihn erkennen? Würde er überhaupt wissen, wer ich bin?
    »Der Wald fängt an.« Ihre Begleiterin kam ein kleines Stück zu ihr den Hang hinunter. »Das ist kein guter Platz, um anzuhalten. Schnöre, vielleicht auch Tecks treiben sich gern hier an den Rändern rum.«
    »Weißt du, ob …?« Renie wußte nicht so recht, was sie eigentlich fragen wollte. »Kannst du dich an … an ein Leben vor dem hier erinnern?«
    »Vor was?«
    »Vor deinem Leben im Schuh, mit der Stiefmutter. Kannst du dich an irgendwas anderes erinnern? Daran, daß du einen weißen Ozean überquert hast? Daß du eine Mutter oder einen Vater hattest?«
    Das Steinmädchen blickte verdutzt und sichtlich ein wenig beunruhigt. »Ich kann mich an viele Dinge vor dem Schuh erinnern. Klar hab ich den Weißen Ozean überquert. Wer nicht?« Es runzelte die Stirn. »Aber eine Mutter? Nein. Manche erzählen von einer Mutter, aber haben tut niemand eine.« Es wurde auf einmal sehr ernst; seine dunklen Augenlöcher weiteten sich. »Wo du herkommst … haben die Leute da Mütter?«
    »Manche, ja.«

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