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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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erreicht. Es gab keinen Mond, nur einen matten Schimmer am Himmel, durch den das Nachtschwarz einen minimalen Stich ins Violette und die Schattenwelt vage Konturen bekam. Renie konnte die direkt neben ihr gehende kleine Person kaum erkennen. Sie wollte sich gerade Gedanken darüber machen, was geschehen mochte, wenn sie ihre kleine Führerin verlor, als eine leuchtende Erscheinung in wallenden Gewändern ihnen den Weg vertrat.
    Erschrocken griff Renie nach dem Steinmädchen, doch dieses schüttelte unbesorgt ihre Hand ab. »Das ist bloß Smonkin«, sagte es.
    »Halt!« Die Gestalt hob die Hand. Ein leuchtender Ball hing knapp darüber, eine Flamme ohne Brennstoff. »Wer geht da?«
    »Ich bin’s, das Steinmädchen.«
    Als sie nähertraten, konnten sie das merkwürdige Wesen ein wenig besser erkennen. Es trug so etwas wie ein langes, sternenbesetztes Nachthemd und hatte einen kugelrunden bleichen Kopf, so daß es wie ein überfüttertes Kind aussah. Es wedelte mit der Hand hin und her, und die Kugelkerze folgte ihr – ein eindrucksvolles Kunststück, das durch die Pausbacken und den dümmlichen Gesichtsausdruck etwas von seiner Wirkung einbüßte.
    »Du solltest im Bett sein«, sagte es mit einer quengelnden Stimme. »Acht Uhr ist’s.«
    »Woran merkt er das?« Das war das erste Mal, seit Renie zurückdenken konnte, daß jemand eine exakte Zeitangabe machte. »Woher weiß er, daß es acht Uhr ist?«
    »Das ist einfach sein Wort für ›dunkel‹«, erläuterte das Steinmädchen.
    »Jedes Kind muß im Bettchen sein«, meinte Smonkin tadelnd.
    »Ich geh aber nicht ins Bett. Ich geh den Wutschbaum suchen, und sie kommt mit. So sieht’s aus.«
    »Aber … aber … das geht nicht.« Seine Stimme verlor auf der Stelle den strengen Ton, ja wurde nahezu quiekend. »Alle müssen im Bett sein. Ich muß an die Fenster klopfen und nachschauen.«
    »Die Stiefmutter hat uns beide vor die Tür gesetzt«, behauptete das Steinmädchen. Das stimmte zwar nicht ganz, aber war auch nicht ganz gelogen. »Wir können nicht zurück.«
    Smonkin war jetzt der Panik nahe. »Dann könnt ihr doch irgendwo anders ins Haus, nicht wahr? Geht… geht einfach zu Bett. Es muß doch noch andere Betten geben, auch wenn lauter Leute auf der Straße schlafen.«
    »Nicht für uns«, erwiderte das kleine Mädchen fest. »Wir gehen in den Wald.«
    Jetzt wurden die Äuglein in dem runden Gesicht schreckensweit. »Aber das geht nicht! Acht Uhr ist’s!«
    »Gute Nacht, Smonkin.« Das Steinmädchen nahm Renie am Arm und zog sie an der verdatterten Erscheinung vorbei, deren schwebende Flamme nun genauso traurig herabhing wie die Backen.
    Renie schaute sich noch einmal um. Smonkin stand immer noch wie angewurzelt da, und die Bestürzung sprach nicht nur aus dem Blick, mit dem er ihnen nachstarrte, sondern aus seiner ganzen Haltung. Selbst die Sterne auf seinem Nachthemd sahen aus wie erloschen.
    »Ach!« Renie schlug sich an die Stirn und mußte sich beherrschen, nicht laut loszulachen. »Natürlich. Das Mondkind. Das an die Fenster klopft.« Ganz plötzlich, wie ausgelöst von einem charakteristischen Geruch, war die Erinnerung an das Gutenachtbuch aus Papier da, das sie von ihrer Großmutter zum fünften Geburtstag bekommen hatte, an die bunten Bilder, leuchtend wie Bonbonpapier. Sie war ein wenig enttäuscht gewesen, weil sie sich etwas gewünscht hatte, das sich von selbst bewegte wie die Kindergeschichten, die sie auf ihrem kleinen Netzbildschirm guckte, alle mit aufregenden Spielzeugfiguren in den Hauptrollen (auch wenn ihre Familie sich die meisten nicht leisten konnte), doch ihre Mutter hatte ihr verstohlen in den Rücken geknufft, und sie hatte sich artig bei Uma’ Bongela bedankt und sich das Buch neben ihr Bett gelegt.
    Erst Monate später, an einem Tag, als sie krank aus der Schule heimgekommen war, während ihre Mutter einkaufen und ihr Vater arbeiten war, hatte sie es schließlich aufgeschlagen. Die ungewöhnliche Ausdrucksweise an manchen Stellen hatte sie erst verwirrt, aber dann auch gefesselt, so als wäre plötzlich ein Fenster aufgegangen, das ihr völlig unbekannte Ausblicke eröffnete…
     
»’s Mondkind, ’s Mondkind geht durch die Stadt,
    Die Straßen entlang, treppauf, treppab.
    Es klopft an die Fenster, es ruft hinein:
    ›Acht Uhr ist’s! Jedes Kind muß im Bettchen sein.‹«
     
    Das Gedicht trug ihr einen mißbilligenden Blick des Steinmädchens ein. »Er heißt Smonkin «, korrigierte es Renie in einem Ton, der deutlich

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