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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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und bin es noch, obendrein auf einen höchst unangenehmen Tod, aber ich halte es nicht aus, einfach passiv darauf zu warten. Wohin mich das geführt hat, will ich gleich erzählen. Aber ich hörte Bonnie Mae Simpkins’ furchtbaren Geschichten immer weniger aufmerksam zu, weil … weil ich über etwas anderes nachdenken mußte. Ich verstehe jetzt Renies dickköpfigen, chronischen Drang, immer weiterzumachen – auch wenn es eigentlich nichts mehr zu tun gibt, willst du trotzdem etwas tun.
    Wir werden alle sterben. Das ist es doch, was dem Leben die Form gibt und vielleicht sogar die Schönheit, diese Kürze, diese Beschränktheit. Warum also unter diesen Umständen etwas anderes tun, als es sich möglichst leicht zu machen? Und wenn man weiß, daß das Ende buchstäblich jeden Moment kommen kann, so wie wir es wissen, warum nicht einfach kapitulieren?
    Ich weiß es nicht. Aber ich weiß jetzt, daß ich das nicht vermag.
    Ich sagte zu den beiden vom Kreis: ›Ich glaube nicht, daß die kleinen Affen gefaßt wurden. Dread wollte euern inneren Widerstand brechen – das macht ihm noch mehr Spaß, als Schmerz zu bereiten. Und er wollte ganz bestimmt alles aus euch herausquetschen, was ihr über Renie und uns andere wißt. Das heißt, wenn die Wächter die Kinder geschnappt hätten, hätte er euch mit der Drohung, sie zu foltern, unter Druck gesetzt. Diese Freude hätte er sich nicht entgehen lassen.‹
    ›Dann sind sie vielleicht doch entkommen‹, sagte Bonnie Mae Simpkins. ›Der Herrgott behüte sie. Ich wünsche ihnen so sehr, daß sie verschont geblieben sind, die armen kleinen Kerlchen.‹ Ich konnte förmlich fühlen, wie sie ihr letztes bißchen Optimismus mobilisierte, und schämte mich wieder, als ich das mit meinem Verhalten vorher verglich.
    Florimel erinnerte sich, daß Orlando und Fredericks über Nandis Spezialkenntnisse gesprochen hatten, und so fragte sie diesen, ob es möglich sei, hier in der Gefängniszelle ein Gateway zu öffnen. Ich glaube, der Mann hat mehrere Rippen gebrochen – obwohl das eine absurde Vorstellung ist, wo wir doch alle virtuelle Körper haben –, denn er erläuterte langsam und unter großen Schmerzen, daß er einen Durchgang nur an einer dafür vorgesehenen Stelle öffnen kann und daß es in diesem Kerker hier gewiß keinen gibt. Während er sprach, dachte ich eingehender darüber nach, was möglich sein könnte und was nicht, und besann mich darauf, daß wir allem Anschein zum Trotz in Wirklichkeit nicht in einem steinernen Tempel gefangen sind, sondern in der Vorstellung eines Tempels.
    Nach und nach kamen mir noch andere Ideen. Nichts Dramatisches, nichts, womit ich die Türen aufsprengen oder die Wachen erschlagen konnte, aber immerhin war ich innerlich beschäftigt, und dafür war ich dankbar. Als Nandi mit seinen Ausführungen fertig war, bat ich die anderen, eine Weile still zu sein. Nicht einmal T4b machte Einwände. Überhaupt finde ich ihn so zurückhaltend wie noch nie, seit Nandi und Bonnie Mae Simpkins mit uns zusammengesteckt wurden.
    Dieses virtuelle Universum gründet, wie es scheint, auf Geschichten, und ich habe den Verdacht, daß dafür wenigstens zum Teil mich die Verantwortung trifft. Ich glaube, ich habe dem Andern die ersten Kindermärchen gefüttert, von denen ausgehend das System sich geformt und definiert hat, und vor allem das Märchen, das offenbar seine Hoffnungen definiert, sofern man einer künstlichen Intelligenz so etwas nachsagen kann. Und in gewisser Weise ist jeder einzelne von uns als eine Märchenfigur definiert worden – Renie als kühne und manchmal allzu verbissene Heldin, !Xabbu als ihr weiser Freund, Paul als Spielball des Schicksals, sich selbst und anderen ein Rätsel. Lange dachte ich, meine Rolle sei klar. Ich war die blinde Seherin – der Name, den ich diesen Journaldiktaten für eine spätere Auffindung gab, war sogar eine ironische Anspielung darauf. Aber mit !Xabbus Hilfe wuchs ich über diese Rolle hinaus und öffnete einen Durchgang an einem nicht dafür vorgesehenen Punkt, wozu keiner der anderen imstande gewesen wäre. Viele Male konnte ich dank der ungewöhnlichen Sinneskräfte, die mir hier zuteil werden, schier unmögliche Dinge vollbringen.
    Anscheinend bin ich eine Zauberin, eine Hexe. Eine gute Hexe, hoffe ich.
    Hier in dieser erfundenen Welt verfüge ich über besondere Kräfte. Während ich darüber nachgrübelte, mit welchen Mitteln Nandi versucht hatte, auf das System Einfluß zu nehmen, wurde mir klar, daß

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