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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ich diese Kräfte noch nicht voll verwertet habe. Und welcher Zeitpunkt wäre wohl dafür geeigneter als dieser jetzt, wo Dread jeden Moment erscheinen kann?
    Ich bat, wie gesagt, meine Gefährten um Ruhe und bemühte mich dann zu erkennen, was jenseits der Mauern unserer kleinen Zelle lag. Bei meinen vorherigen Versuchen, über die unmittelbare Umgebung hinauszugehen, in der Hauswelt oder in der Stätte der Verlorenen, hatte ich immer viel freien Raum, wo ich Informationen an Luftströmungen und Echos ablesen konnte, selbst wenn sie für mich nicht als solche identifizierbar waren. Meine Fähigkeiten kamen mir als Verlängerung der natürlichen Sinne vor, und daher hielt ich sie immer für ähnlich begrenzt wie diese, aber jetzt war mir klargeworden, daß ich das gar nicht sicher wußte. Während nun meine Freunde in bangem Schweigen warteten, öffnete ich mich innerlich und versuchte zu sehen, zu hören, zu fühlen – die Worte reichen alle nicht hin –, was sich außerhalb befand.
    Als ich mit !Xabbu zusammen die Funktionsweisen des Systems erforscht hatte, war mir immer eine wesentliche Verschiedenheit in der Art, wie er und ich es wahrnahmen, bewußt gewesen. Diese Verschiedenheit war zwar durch die Symbolik des Fadenspiels und seine mathematischen Grundlagen zum Teil überbrückt, aber nie ganz ausgeräumt worden. Jetzt begann ich mir Gedanken darüber zu machen, was es mit dieser Verschiedenheit auf sich haben mochte: Wieso konnte ein junger Mann mit einer so geringen Erfahrung der Informationssphäre Dinge erfassen, die ich mit meinem jahrelangen Studium und mit den veränderten und gesteigerten Wahrnehmungen, die mir das Netzwerk verschaffte, nur mit Mühe und Not verstand? Es liegt, wie ich jetzt weiß, daran, daß ich von meinen eigenen Erwartungen eingeschränkt werde. !Xabbu lernte bei seinem Volk, alles in sich aufzunehmen, was die Welt an ihn heranträgt, und dann, nachdem er die wichtigsten Elemente herausgefiltert hat, danach zu handeln. Aber er ist überdies klug und unerhört flexibel. Konfrontiert mit einer völlig neuen Welt versuchte er nicht, sie seinen Erwartungen zu unterwerfen, sondern machte sich daran, die herrschenden Regeln von Grund auf zu lernen, ohne Vorurteile gegen die Herkunft der Informationen.
    Aber ich – genau wie die übrigen, vermute ich – habe mich von der Art, wie dieses Netzwerk die Wirklichkeit nachahmt, täuschen lassen und habe versucht, mir diese Welt so zu deuten, als ob sie die reale Welt wäre. Trotz der erstaunlichen Fähigkeiten, über die ich hier verfüge, habe ich mich nur hören lassen, was gehört, nur fühlen lassen, was gefühlt werden kann, und dann diese Daten naiv nach dem Vorbild der äußeren Realität synthetisiert. Wie eine grausame Ironie erscheint mir das jetzt: Eine blinde Frau ringt verzweifelt darum, eine Umgebung, in der sie ihren Gefährten überlegen ist, der wirklichen Welt anzuähneln, in der sie ihnen unterlegen ist.
    Was aber würde !Xabbu tun? Selbst in dieser furchtbaren Lage mußte ich bei dem Gedanken schmunzeln. Was würde !Xabbu tun? Er würde sich öffnen. Er würde, was um ihn herum ist, sprechen lassen, und er würde vorurteilsfrei lauschen, statt die Information in ein vorgefaßtes, ordentliches Schema zu pressen.
    Ich versuchte, dasselbe zu tun.
    Als erstes bemerkte ich, daß ich trotz meiner äußerlich vorgespiegelten Ruhe immer noch eine Todesangst hatte. Mein Herz raste, und der erschrockene Atemzug, den Paul Jonas getan hatte, als die Wächter ihn packten, klang mir immer noch in den Ohren, so als ob das Echo in unserer Gefängniszelle verewigt worden wäre. Dies brachte mich auf einen anderen Gedanken, den ich aber erst einmal zurückstellte, um mich zuvorderst um Ruhe und Klarheit zu bemühen. Ich tat mein Bestes, aber ich bin viel zu schwach, um es in wenigen Minuten zu einer solchen inneren Gelassenheit zu bringen.
    Es war schwer, die Vorstellung loszuwerden, die Zellenwände und überhaupt der ganze Tempel besäßen reale, stoffliche Gegenständlichkeit. Ich nehme an, Mystiker und Wissenschaftler kostet es eine ähnliche Anstrengung, die physische Welt als eine Verdichtung von Energie wahrzunehmen. Ich hatte vage Hinweise darauf, was jenseits unseres Gefängnisses lag – Schalldaten, Gerüche –, und sie waren für mich schon bedeutsamer als für alle meine Gefährten, aber das reichte noch nicht aus. Ich mußte das Gefühl bekommen, daß sie genauso bedeutsam waren wie das, was sich innerhalb der Zelle

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