Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
diese Zeit zurückblicken kann und mich daran erinnern will, was ich empfunden und gedacht habe. Aber vor einigen Stunden hatte ich wieder einmal seelisch den tiefsten Punkt erreicht, und da kam mir dieses Diktieren mehr als vermessen vor – stumpfsinnig und zwecklos. Ich sehe keinen Sinn darin, einen dramatischen letzten Willen zu hinterlassen, den niemand hören wird. Tapferkeitsbeweise ohne Hoffnung haben mich noch nie interessiert, und selber wollte ich ganz gewiß keinen erbringen.
Kurz und gut, ich hatte kapituliert.
Soweit ich sehen kann, hat sich nichts grundlegend verändert – unsere Überlebenschancen sind immer noch verschwindend gering –, aber ich habe eine kleine, unerwartete Hoffnung gefunden. Nein, keine Hoffnung. Ich glaube nach wie vor, daß wir unser Leben verlieren werden, bevor dies hier alles zu Ende ist. Ein Ziel? Vielleicht.
Als uns nach dem irrsinnigen Grauen der Dodge-City-Simwelt in Ägypten kein anderes Schicksal erwartete als die Gefangenschaft und vor allem als wir entdeckten, daß wir Dread vorgeführt werden sollen, stürzte ich zunächst in die tiefste Verzweiflung. Die innere Hölle. Ein finsteres Loch. Ich konnte nicht sprechen, konnte an nichts anderes denken als an den Albtraum jenes Raumes in der Hauswelt, in dem Dread mich seinerzeit quälte. Wenn sich jemand in dem Moment erboten hätte, mir eine Kugel in den Kopf zu schießen, hätte ich dankbar ja gesagt.
Dann wurde alles noch schlimmer, sofern das überhaupt möglich war. Robert Wells, der uns gefangengenommen hat und der anscheinend mittlerweile Dreads rechte Hand ist, brachte zwei weitere Gefangene in unsere Zelle und ließ Paul Jonas zum Verhör abführen. Ich war so unglücklich, daß ich mich kaum bewegen konnte. Jetzt habe ich Angst um Paul, schreckliche Angst. Er hat schon so viel durchgemacht. Ich schäme mich, daß mein eigenes Leid so wenig an meinem Egoismus geändert hat. Das Ausmaß seiner Not kann ich mir nicht einmal richtig vorstellen – verirrt in diesem Netzwerk, kaum eine Erinnerung an sein wirkliches Leben und keine Ahnung davon, was mit ihm gemacht wurde. Daß er bei alledem so klar geblieben ist, so freundlich und tapfer … Es ist erstaunlich. Und genauso erstaunlich ist, daß ich erst, als er weggebracht wurde, merkte, wie sehr ich ihn bewundere.
Er könnte jetzt bereits tot sein. Oder ganz furchtbare Qualen leiden. Was wäre schlimmer?
Dies ist der Fluch, der mir schon vorher klargeworden ist, die Bürde, vor der ich mich mein Leben lang gedrückt habe. Wenn man Menschen gern hat, Menschen … liebt, macht man sich damit zu einer Geisel der Zukunft.
Damit begann mein Versinken im Abgrund. Nachdem Paul abgeführt worden war, konnte ich minutenlang – für mein Gefühl waren es Stunden – kein Wort reden. Konnte nicht denken. Die Angst hatte mein Herz gepackt, meine Gedanken eingefroren. Ich konnte mich nicht vom Fleck bewegen, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich nicht gewußt, wohin.
Dies war, wie ich jetzt erkenne, eine direktere Version meiner Überlebensstrategie in der wirklichen Welt. Vom Leben verschreckt habe ich mich immer mehr im steinigen Innern des Gebirges abgeschottet, in dem Asyl, das ich nur mit meinen Apparaten teile. Ohne mir dessen bewußt zu sein, habe ich aktiv daran mitgewirkt, wesentliche Aspekte meines Menschseins zu eliminieren.
In den Klauen der Angst erkannte ich das noch nicht, sondern erst jetzt, wo es vorbei ist. Vielleicht wäre ich überhaupt nie wieder aus dieser inneren Umnachtung herausgekommen, wenn nicht meine Freunde Florimel und T4b, die dachten, ich hätte einen Herzanfall, sich um mich gekümmert hätten. Ich fühlte sie und hörte sie wie aus weiter Ferne, und eine Zeitlang wollte ich nicht wieder an meine Nerven und Sinne angeschlossen werden. Lieber im schwarzen Loch versteckt bleiben. Lieber mich hinter dem Panzer der Furcht verschanzen, so wie arktische Jäger sich gegen die Kälte eine schützende Behausung aus Eisblöcken bauen.
Dann, immer noch weit von mir selbst entfernt, fühlte ich andere Hände auf mir, unbeholfene, stockende Hände, und hörte eine andere Stimme. Die neue Mitgefangene hatte sich herübergeschleift, um mir ungeachtet ihrer eigenen Verletzungen zu helfen. Selbst in meiner tiefen Abgeschnittenheit von allem schämte ich mich. Diese Frau hatte durchlitten, was ich nur fürchtete, und brachte dennoch die Kraft auf, sich um mich zu sorgen, eine Fremde!
Ich hatte gedacht, ich würde nie wieder in einen normalen
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