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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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das Ganze eine Art Loyalitätstest? Wenn ja, dann liegt mir nicht allzuviel an der Stelle. Ach, Scheiße, eigentlich liegt mir gar nichts daran.
    Dennoch, da war etwas an Avas Geschichte, das sich nicht so einfach vom Tisch wischen ließ. Das hieß zwar noch lange nicht, daß sie der Wahrheit entsprach – die ganze Sache konnte gut und gern eine hysterische Phantasie sein, die diese Frau Kenley der weltfremd gehaltenen, leichtgläubigen Ava aufgeschwatzt hatte –, aber es hieß möglicherweise, daß das Mädchen nicht völlig unzurechnungsfähig war. Und was sie auch sonst noch sein mochte, sie war auf jeden Fall ein Opfer.
    »Laß uns mal einen Moment über was anderes reden«, sagte er, wobei ihm nicht entging, daß sie schon wieder näher herangerückt war, so daß jetzt ihr Schenkel unter dem Kleid und dem gerüschten Unterrock an seinen drückte. »Wieso meinst du, daß dein Vater meinen Tod will?«
    »Oh!« Ihre Augen wurden groß, als ob sie die Gefahr, deretwegen sie noch vor einer halben Stunde in Tränen aufgelöst gewesen war, völlig vergessen hätte. »O Paul, ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren! Das macht mir solche Angst.«
    »Erzähl mir einfach, warum du meinst, daß ich in Gefahr bin.«
    »Mein Freund hat es mir gesagt. Du weißt schon, dieser Freund von mir.«
    Paul zog eine Grimasse. »Ja, ich weiß. Dein Geist. Was genau hat er dir gesagt?«
    »Na ja, er hat mir eigentlich gar nichts gesagt – er hat es mir gezeigt. Genauso wie er mir dich gezeigt hat, wo du neulich in deinem Zimmer gesessen hast.« Sie runzelte die Stirn – ein wenig gekünstelt, fand er, als machte sie ein Bild aus den alten Büchern nach. Kam das automatisch dabei heraus, wenn ein Mädchen wie eine Gestalt aus alten Büchern aufwuchs? »Paul, was ist ein Gral?«
    »Gral?« Mit einer solchen Frage hatte er nicht gerechnet. »Ein Gral … na ja, das … das ist so ein mythischer Gegenstand.« Trotz seiner Literaturkurse an der Universität und etlicher Vorlesungen über die Präraffaeliten waren seine Erinnerungen beschämend nebulös. »Der Heilige Gral. Ich glaube, das soll der Kelch gewesen sein, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl getrunken hat. Irgend sowas in der Art. Er kommt in vielen mittelalterlichen Sagen vor, den ganzen Geschichten um König Artus.« Er hörte sich an, fand er, wie der typische amerikanische Banause, über den er und seine Freunde sich immer lustig gemacht hatten. »Und dann bezeichnet das Wort, glaube ich, noch andere Sachen, so einen Kessel in den irischen Märchen, aber genau weiß ich das nicht mehr. Warum?«
    »Mein Vater hat darüber mit diesen grausamen Männern gesprochen, die für ihn arbeiten, Finney und Mudd.«
    Paul schüttelte den Kopf. »Da komm ich schon wieder nicht mehr mit, Ava.«
    »Mein Freund – er hat mir in dem Spiegel gezeigt, wie sie miteinander sprachen. Das heißt, er hat mir Finney und Mudd im Spiegel gezeigt, und die haben mit meinem Vater gesprochen, der in einem Spiegel so groß wie die Wand war. Er war bei ihnen genauso im Spiegel, wie er hier bei mir immer ist.«
    Finney und Mudd, wie sie mit ihrem Boß auf einem Wandbildschirm reden, dachte Paul. Avas Phantom konnte also nicht nur alle täuschen, die sie und Paul bespitzelten, er konnte seinerseits auch die Spitzel bespitzeln. »Und?«
    »Mein Vater hat ihnen erzählt, der Gral wäre zum Greifen nahe. Deshalb wäre es wohl an der Zeit, dich – ›diesen Jonas‹, sagte er – verschwinden zu lassen.«
    Paul haschte verzweifelt nach sinnvollen Fäden in diesem großen, konfusen Wandteppich der Unbegreiflichkeiten und Verrücktheiten. »Leute gebrauchen den Ausdruck ›Gral‹ manchmal im Sinne von irgend etwas Wichtigem, Ava, einem Projekt, einem Ziel. Ich weiß aber nicht, was das mit meiner Entlassung zu tun haben könnte oder warum dein Vater sich überhaupt mit einer solchen Geringfügigkeit abgeben sollte.« Er lächelte zum Zeichen, daß er sich über seine Bedeutungslosigkeit keine Illusionen machte, aber sie fand das weder lustig noch beruhigend.
    »Er hat nicht davon geredet, dich bloß zu entlassen, Paul.« Sie blickte streng, so als ob er jetzt der unartige Schüler und sie die Lehrerin wäre. »Nickelblech – Finney – sagte, sie wären jederzeit bereit, mein Vater müßte nur die Anweisung geben, und Mudd meinte: ›Es wird sowieso niemand groß interessieren. Er hat bloß noch eine alte Mutter, und die macht’s auch nicht mehr lange. In ihrem Zustand schlägt die keinen Lärm.‹

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