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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sondern eine Ava, die im vollen, wenn auch künstlichen Sonnenschein unter einem Baum hockte und den Vögeln, die sie wie eine Schar bewundernder Liliputaner umgaben, Brotbröckchen hinstreute.
    »Wer bist du?« fragte Paul. »Warum redest du mit Ava – mit Avialle? Was willst du von ihr?«
    »Will … will … schützen. Avialle schützen.« Der rätselhafte Freund sprach mit einem befremdlichen, aphasischen Nuscheln. Paul hätte Mitleid empfunden, wenn ihm nicht etwas an dem schleppenden, unmenschlichen Tonfall zugleich eine Heidenangst eingejagt hätte.
    »Und wer bist du?«
    »Einsam.« Ein tiefer Klagelaut, knisternd und krachend wie eine statische Störung. »Einsamer Junge.«
    »Einsam? Wo? Wo bist du?«
    Während des Schweigens, das sich anschloß, zerflatterte das Bild von Ava, und an seiner Stelle erschienen unregelmäßig flimmernde Lichtstreifen. »Brunnen«, kam schließlich die Antwort. »Tief unten … schwarz schwarz schwarz.« Wieder das stotternde Klagen, hart und abgehackt. »Tief unten im schwarzen Brunnen.«
    Paul sträubten sich die Haare am ganzen Leib. Er wußte, daß er wach war – jeder zitternde Nerv sagte ihm das –, und dennoch war das ganze Gespräch wie ein Albtraum, in dem man das Furchtbare kommen sieht, aber nicht aufhalten kann.
    Erhaschte verzweifelt nach einem festen Anhaltspunkt. »Du willst Ava… Avialle schützen, ist das richtig? Wovor denn?«
    »Jongleur.«
    »Aber er ist ihr Vater! Er würde ihr doch nichts tun …!«
    »Nicht Vater!« ächzte die Stimme. »Nicht Vater!«
    »Was soll das heißen?« Die Familienähnlichkeit war deutlich, auch wenn die raubvogelartigen und grausamen Züge, die Paul auf Bildern von Felix Jongleur gesehen hatte, bei der Tochter weich und hübsch geworden waren. »Ich verstehe nicht…«
    »Frißt die Kinder«, stöhnte es zur Antwort. »Jongleur. Gral. Ihnen helfen. Zuviel Schmerzen, und …« Die Lichtstreifen begannen schneller zu flackern, bis sie beinahe zu einem einzigen, ununterbrochenen Strahlungsausbruch geworden waren. Paul schaute wie gebannt darauf. »Alle Kinder …«
    Das strobische Blitzen wurde noch schneller, eine weiße Sonneneruption von einer solchen Helligkeit, daß sich vor seinen starrenden Augen die Wände seines Zimmers auflösten. Plötzlich stürzte er nach vorn in das alles andere auslöschende Licht, und die Geisterstimme umgab ihn jetzt ringsherum mit der ganzen Gewalt ihrer Verlorenheit.
    »Der Gral. Frißt die Kinder. So viele …! Quält sie!«
    Seine Sinne entflammten unter der Flut von Eindrücken, aber er konnte nichts tun. Er konnte sich nicht gegen das Strahlen wehren, das ihn überströmte, ihn durchpulste, sich in seine Augen brannte und sein Gehirn zu einem harten Ball aus reinem Kristall verschmolz. Gesichter erschienen, Kindergesichter, doch es war kein bloßer Bilderstrom: Er erkannte diese Kinder, fühlte ihr Leben und ihre Geschichte, während sie an ihm vorbeiflogen wie ein Schwarm Spatzen in einem Orkan. Hunderte winziger Geister durchflossen ihn, Tausende, jeder einzelne ein Wellenknoten qualvoller Finsternis im Meer aus gleißendem Licht, jeder einzelne kostbar, jeder einzelne todgeweiht. Dann bildete sich aus der wirbelnden Dunkelheit eine neue Form, ein großer, silbriger Zylinder, der in einem schwarzen, leeren Grabgewölbe schwebte.
    »Der Gral«, wiederholte die Stimme beschwörend, klagend. »Für Jongleur. Frißt sie. Ad Aeternum. In Ewigkeit.«
    Paul fand seine Stimme wieder, obwohl er keine Lungen hatte, die Luft ausstoßen, keine Stimmbänder, die den Schrei formen konnten.
    »Aufhören! Ich will nichts mehr sehen!«
    Doch es hörte nicht auf. Er wurde hineingerissen in einen Sturm des Leids.
     
    Als er auf dem Teppich erwachte, strömte das echte Morgenlicht durchs Fenster. Sein Kopf fühlte sich an wie ein morsches Stück Holz, das man ihm schief auf den Hals gesetzt hatte. Selbst nach einer extrastarken Tasse Kaffee und einer doppelten Dosis Schmerztabletten fühlte er sich kein bißchen menschlicher. Er fühlte sich hundeelend.
    Und er hatte Angst.
    Es gab keine Erklärung für das, was er erlebt hatte. Er konnte nicht so tun, als wäre es nur ein böser Traum gewesen – die Einzelheiten waren zu klar, die Haltung, in der er vor dem Wandbildschirm aufgewacht war, ließ keinen Zweifel zu. Aber unbegreiflich war es dennoch. Das Wesen, das mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, war kein gewöhnlicher Häcker, soviel stand unbedingt fest. Er glaubte nicht an Geister, schon gar nicht an

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