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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Spur von Ironie zu hören.
    Paul war jetzt endgültig und ohne jeden Zweifel überzeugt, daß sie verrückt war. Die Kontrollwut ihres Vaters, ihr eingesperrtes Leben in dieser aberwitzigen Umgebung, einem Zoo mit nur einem Tier im Grunde, das alles hatte ihren Geist vollkommen zerrüttet. Er wußte, er sollte aufstehen und ins Haus zurückgehen, den Fahrstuhl zu Finneys Büro hinunter nehmen und auf der Stelle kündigen, weil eine solche Situation nicht gut enden konnte. Er wußte, er sollte es tun, aber aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen des Leids, das sich hinter ihrem sanften Gesicht verbarg, tat er es nicht.
    »Und wo ist dieses Kind?« fragte er.
    »Ich weiß nicht. Sie haben ihn mir weggenommen. Ich durfte ihn nicht einmal sehen.«
    »Ihn? Du weißt, daß es ein Junge war? Und wer hat ihn weggenommen?«
    »Die Ärzte. Ja, ich weiß, daß es ein Junge war. Ich wußte es, noch ehe ich überhaupt wußte, daß ich ihn in mir trug. Ich hatte Träume. Es war sehr seltsam.«
    Paul schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich verstehe das nicht so richtig. Du … du hattest ein Kind. Du hast es nie gesehen. Die Ärzte haben es dir weggenommen.«
    »Ihn. Sie haben ihn weggenommen.«
    »Ihn. Wann war das?«
    »Kurz nachdem du mein Hauslehrer wurdest, vor sechs Monaten. Weißt du noch? Ich war krank und konnte mehrere Tage nicht zum Unterricht erscheinen.«
    »Kurz nachdem ich kam? Aber … aber du sahst nicht aus, als ob du schwanger wärst.«
    »Es war sehr früh.«
    Paul wurde nicht daraus schlau. »Und du hast nie …« Er zögerte, gehemmt von dem unnatürlichen Druck, mit ihr sprechen zu müssen, als ob sie wirklich ein Mädchen aus einer fast zweihundert Jahre zurückliegenden Zeit wäre. »Und du warst nie … mit einem Mann zusammen?«
    Ihr Lachen war unerwartet laut. Die Vorstellung amüsierte sie sehr. »Wer hätte das sein sollen, lieber, lieber Paul? Der alte Doktor Landreaux, der hundert Jahre alt sein muß? Oder einer von diesen beiden gräßlichen Kerlen, die für meinen Vater arbeiten?« Ihr schauderte, und sie rückte ein Stück näher. »Ich bin mit niemandem zusammen gewesen. Es gibt für mich keinen andern Mann als dich, mein geliebter Paul. Keinen.«
    Ihm ging langsam die Energie aus, ihren Liebesbeteuerungen zu widersprechen. »Aber jemand hat das Kind verschwinden lassen?«
    »Ich wußte zu der Zeit nichts davon. Ich hatte mich schon Tage vorher unpäßlich gefühlt. Morgens ging es mir besonders schlecht. Ich ging zu den Ärzten, und sie untersuchten mich – wenigstens dachte ich, daß sie das machten. Erst später wurde mir klar, daß sie nur das Kind weggenommen hatten, bevor es wachsen konnte. Aber irgendwie habe ich es trotzdem gemerkt, Paul – ich wußte es! Doch ganz sicher war ich erst, als Frau Kenley es mir erzählte.«
    »Frau Kenley …?« Er kam sich vor, als ob er sich in der Pause in ein laufendes Theaterstück gesetzt hätte und jetzt vergeblich versuchte, zu ergründen, was in der ersten Hälfte passiert war. »Wer …?«
    »Sie war eine der Schwestern, die immer mit Doktor Landreaux kamen. Aber Finney sah sie mit mir flüstern, und seitdem ist sie nicht mehr gekommen. Frau Kenley war sehr lieb – sie war eine Quäkerin, wußtest du das? Sie hat nicht gern hier gearbeitet. Sie hätte mir eigentlich nichts sagen dürfen, aber sie fand es schrecklich, was mit mir geschah, und deshalb sagte sie zu dem Arzt, daß sie schauen wollte, ob ich auf dem Wege der Besserung war, doch statt dessen machte sie mit mir einen Spaziergang im Garten und erzählte mir, daß sie meinen kleinen Jungen herausgeholt hatten.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Bevor er überhaupt wachsen konnte!«
    »Du weißt also nur deshalb, daß du ein Kind bekommen solltest, weil diese Schwester dir das erzählt hat.«
    »Ich wußte es, Paul. Ich merkte in meinen Träumen, daß ein Kind in mir drin war. Aber als sie mir sagte, was sie Schreckliches getan hatten, da begriff ich alles.«
    »Das ist mehr, als ich von mir behaupten kann.« Das unablässige Vogelgezwitscher in den Bäumen über ihnen war laut. Paul fragte sich, wie es möglich sein sollte, daß Geräusche ohne weiteres in den Kreis eindrangen, aber ihr Gespräch geheim blieb.
    Aber irgendwas muß hier nicht mit rechten Dingen zugehen, dachte er. Sie würden uns sonst nicht hier sitzen und über solche Sachen reden lassen, nicht wahr? Es sei denn, sie wußten bereits, daß das Mädchen verrückt war, und wollten sehen, wie Paul reagierte. War

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