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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Ich bin ganz sicher, daß er sich so ausgedrückt hat.«
    Jäh krampften sich seine Eingeweide zusammen, wie von einer kalten, nassen Hand gequetscht, und vor Panik wurde ihm regelrecht schwindlig im Kopf. So konnte doch niemand über die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses reden, oder? Es hörte sich an wie aus einem Krimi. Bestimmt gab es irgendeine harmlose Erklärung. Ganz bestimmt.
    Er sagte: »Sie ist nicht mehr. Meine Mutter. Sie ist gerade gestorben.«
    »Das tut mir leid, Paul. Es muß sehr schlimm für dich sein.« Ava schlug die Augen nieder und zeigte ihre malerisch langen, dunklen Wimpern. »Ich habe meine Mutter nie gekannt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben.«
    Er sah sie prüfend an. Vor Aufregung war die blasse Haut über dem Kragen ihres hochgeschlossenen Kleides gerötet. »Du würdest doch … Du hast dir das nicht etwa ausgedacht, oder? Bitte, sag es mir, Ava. Ich werde nicht böse sein, aber ich muß es wissen.«
    Sie konnte ihre Verletzung so wenig verbergen wie ein Kind. »Ausgedacht …? Aber, Paul, ich würde dich niemals belügen. Ich … liebe dich.«
    »Ava, das geht nicht, das habe ich dir doch gesagt.«
    »Ach, das geht nicht?« Ihr schrilles Lachen tat ihm in den Ohren weh. »›Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren‹ – dein William Shakespeare hat das gesagt, nicht wahr? Das ist aus Romeo und Julia.«
    Genau aus dem Grund hätte ich das Stück niemals mit einem einsamen, hocherregbaren jungen Mädchen durchgenommen, dachte er. Ihre früheren Hauslehrer haben sich einiges zuschulden kommen lassen. »Ich muß nachdenken, Ava. Das ist … das ist ziemlich starker Tobak.« Seine Reaktion war so lächerlich wie unangemessen. »Ich brauche ein wenig Zeit, um das alles in meinem Kopf zu sortieren.«
    »Machst du dir gar nichts aus mir, Paul? Nicht das geringste?«
    »Natürlich mache ich mir etwas aus dir, Ava. Aber was du mir erzählst, ist viel größer und komplizierter, ein gottverdammter Irrsinn.« Als sie erbleichte und die Hand an den Mund führte, schämte sich Paul. Für ihre Verhältnisse hatte er sich ausgesprochen unflätig ausgedrückt. »Entschuldige, Ava, ich weiß einfach nicht, was ich von all den Sachen halten soll, die du mir da erzählst.«
    Als sie ihre Hand auf seine legte, zog sich seine Haut unter ihren kühlen, trockenen Fingern förmlich zusammen. »Du denkst … du denkst, ich könnte mich irren, nicht wahr? Schlimmer noch, du denkst, ich bin vielleicht … wie sagt man? Hysterisch? Verrückt?«
    »Ich denke, daß du ein gutes und ehrliches Mädchen bist.« Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte. Er drückte ihr fest die Hand, zog sie dann sanft zurück und stand auf. Da kam ihm ein Gedanke. »Könnte … dein Freund … könnte er mit mir reden? Würde er das tun?«
    »Ich weiß nicht.« Ihre Fassung war eine dünne Fassade über einem Abgrund des Elends. Paul war froh, daß er nicht tiefer schauen konnte. »Ich werde ihn fragen.«
     
    Das Flackern weckte ihn.
    Nach langem Hirnzermartern bis spät in die Nacht war er zuletzt eingeschlafen, trotz oder wegen des ungewöhnlich vielen Weins, den er getrunken hatte. Sein erster wirrer Gedanke war, die Rolläden vor dem Fenster seien kaputt und zerhackten mit ihrem Gewackel das ihn anstrahlende grelle Frühlicht. Erst nachdem er sich hochgequält hatte, erkannte er, daß das arhythmische Blinken nicht vom Fenster, sondern vom Wandbildschirm kam.
    Ein Anruf…? dachte er benommen. Wieso hat es nicht geklingelt? Angst durchschoß ihn. Ein Unfall. Das Notwarnsystem. Das Gebäude brennt.
    Er sprang hastig aus dem Bett und riß die Rolläden auf. Draußen war noch tiefe Nacht. Die Stadt unter ihm war dunkel, nur die rötlichen Lichter der Bohrtürme machten den Sternen Konkurrenz. Keine Flammen schlugen an der schwarzglänzenden Wand des Turms empor, und auch sonst deutete nichts auf ungewöhnliche Vorkommnisse hin. Es konnte nur ein technischer Defekt sein.
    »Paul Jonas.«
    Er fuhr herum, aber das Zimmer war leer.
    »Paul Jonas.« Die Stimme, die aus keiner bestimmten Richtung kam, hatte die leise Eindringlichkeit einer summenden Fliege an einer Fensterscheibe.
    »Wer … wer ist da?« Doch noch während er das fragte, ging es ihm auf. Seine verkaterte Benommenheit war auf einmal wie weggeblasen. »Bist du … Avas Freund?«
    »Avialle«, hauchte die Stimme. »Engel …« Der Wandbildschirm flackerte wieder, dann leuchtete er in bunten Farben auf. Ava erschien darauf, nicht wie sie im Augenblick war,

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