Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
leise. »Die Buschmannsimulation, in die du mich einmal mitgenommen hast – Gott, das kommt mir vor, als wäre es hundert Jahre her! Wo wir getanzt haben.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Er hatte sich die Tränen abgewischt. »Nein, Renie, das ist etwas anderes, etwas … Größeres.«
Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. Die Samenschoten an seinen Fußgelenken rasselten, als er sich bewegte.
»Aber wenn das nicht deine Welt ist…?«
»Dort ist ein Feuer«, sagte er und deutete auf einen rötlichen Schein, der auf dem Wüstensand flackerte. »Gleich hinter dem Hügel.«
Auf dem Gang durch die trockene Mulde wirbelten ihre Füße soviel Staub auf, daß sie über Wolken zu gehen schienen. Der Mond überzog die Dünen, Felsen und Dornensträucher mit einem silbernen Hauch.
Das Lagerfeuer war klein, bestand nur aus wenigen über Kreuz liegenden Stöcken. Außer dem Feuer gab es in der ganzen unermeßlichen Weite der Wüstennacht kein Zeichen menschlichen Lebens.
Bevor Renie noch einmal nachfragen konnte, deutete !Xabbu auf eine Bodenfurche, die sich neben dem Lagerfeuer durch die rissige Erde zog, das leere Bett eines seit langem ausgetrockneten Baches. »Dort unten«, sagte er. »Ich sehe ihn. Nein, ich fühle ihn.«
Renie sah nichts außer den tanzenden Schatten des Feuers, doch auf !Xabbus Tonfall hin schaute sie zu ihm hinüber. Sein Gesicht war ernst, aber da war noch etwas, ein euphorisches Leuchten in den Augen, das sie bei jedem anderen für ein Anzeichen von Hysterie gehalten hätte.
»Wen denn? Was denn?« Mit jäher Angst ergriff sie seine Hand.
Er erwiderte ihren Druck und führte sie in die Mulde hinunter. Neben dem Feuer blieb er stehen. Es entging ihr nicht, daß ihre Fußspuren die einzigen waren, die den Sand durchquerten. Als sie in das Bachbett blickten, sah Renie, daß es doch nicht völlig trocken war: Ein dünnes Rinnsal kroch über den Boden, so schmal, daß sie es mit einem Fuß hätte stauen können, wenn sie hinuntergestiegen wäre. Neben diesem Wasserfaden bewegte sich etwas, etwas ganz Kleines.
!Xabbu setzte sich am Rand der flachen Furche in den Staub. Seine Rasseln wisperten.
»Großvater«, sagte er.
Der Mantis blickte auf, den dreieckigen Gottesanbeterkopf schief gelegt, die Arme mit den Dornenreihen angehoben.
»Striemenmäuserich. Stachelschweinfrau.« Die ruhige Stimme kam von überall und nirgends. »Ihr habt einen weiten Weg zurückgelegt, um das Ende zu erleben.«
»Dürfen wir uns zu dir ans Feuer setzen?«
»Ihr dürft.«
Renie begriff allmählich. » !Xabbu «, flüsterte sie. »Das ist nicht Großvater Mantis. Das ist der Andere. Er hat das irgendwie aus deinem Unterbewußtsein gesaugt. Mir ist er als Stephen erschienen und hat so getan, als wäre er mein Bruder.«
!Xabbu lächelte nur und drückte ihr die Hand. »An diesem Ort ist er der Mantis«, sagte er. »Wie du ihn auch nennen magst, wir sind zu guter Letzt dem Traum begegnet, der uns träumt.«
Sie setzte sich neben ihn, willenlos und emotional ausgelaugt. Sie wollte nur noch mit !Xabbu zusammensein. Vielleicht hat er ja recht, dachte sie. Warum dagegen kämpfen? Mit Logik hat das alles nichts zu tun. Wir befinden uns ganz zweifellos im Traum von jemand anders. Wenn der Andere auf diese Art kommunizieren mochte, vielleicht gar nicht anders kommunizieren konnte, dann sollten sie sich besser damit abfinden. Sie hatte versucht, ihm als Stephen ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen, und seine Wut und Erbitterung hatten sie beinahe umgebracht.
Der Mantis senkte sein glänzendes Köpfchen, dann hob er es wieder und betrachtete sie mit winzigen, vorstehenden Augen. »Der Allverschlinger wird bald hier sein«, sagte er. »Er wird auch zu meinem Lagerfeuer kommen.«
»Es läßt sich noch etwas tun, Großvater«, meinte !Xabbu .
»Moment mal«, flüsterte Renie. »Ich dachte, wenn jemand der Allverschlinger in der Geschichte wäre, dann er. Es. Das Betriebssystem, meine ich, der Andere.«
Das Insekt schien sie gehört zu haben. »Wir sind jetzt am Ende angekommen. Mein Kampf ist aus. Ein großer Schatten, ein hungriger Schatten wird alles fressen, was ich geschaffen habe.«
»Das muß nicht so sein, Großvater«, widersprach !Xabbu . »Es gibt Menschen, die dir helfen können – unsere Freunde und Verbündeten. Und sieh her! Hier ist dein geliebtes Stachelschwein, die Frau mit dem klaren Verstand und dem tapferen Herzen.«
Tapferes Herz vielleicht, dachte Renie. Aber klarer Verstand? Pustekuchen.
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