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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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den Laufpaß gegeben hat, und ihrem Anwalt zufolge »systematisch schikaniert, bis hin zur Vergewaltigung«.
    (Bild: Jens Verwoerd, Hoeks Anwalt)
    Verwoerd: »Das arme Mädchen kann das Netz nicht mehr benutzen – auf das sie weder schulisch noch sozial verzichten kann –, weil der Avatar des Angeklagten, der keinen andern Zweck hat, als sie zu terrorisieren, ihre Online-Person keinen Moment in Ruhe läßt, einerlei welchen Knoten sie aufsucht. Sie ist zahlreiche Male beschimpft, attackiert und sexuell belästigt worden, sowohl verbal als auch über die Taktoren der VR-Knoten, und dennoch scheint dieses Gericht der Meinung zu sein, das Ganze sei nicht ernster zu nehmen als die derben Späße, die manche Erwachsene im Netz miteinander treiben …«
     
     
    > Renie trieb sterbend in der von Lichtern durchfunkelten Dunkelheit, und immer noch wurde sie das Gefühl der Furcht nicht los – doch es war eine Furcht, die von jemand anderem kam.
    Nicht jemand, dachte sie, etwas. Wie kann ein Ding, ein Konstrukt aus Code, sich dermaßen fürchten…?
    Das Betriebssystem hatte sie zu sich geholt und dann weggestoßen, es war wieder in seine innere Emigration geflohen und ließ sie hier in einem Sternenmeer ertrinken. Es war ein langsamer Tod, ein Verebben des Bewußtseins, ein Zerfall des Ich. Schon bei den vorigen Wutanfällen des Systems hatte sie etwas Ähnliches empfunden, und damals hatte sie das mit Grauen erfüllt. Jetzt trieb sie nur noch dahin, pulste wie ein verhallendes Echo durch die menschenfernen Lichter und erkannte dabei, daß das Betriebssystem in einem Zustand der Furcht lebte, der viel schlimmer war als alles, was sie sich vorstellen konnte, in einer so allumfassenden und übermenschlichen Angst, daß selbst ihre fernen Resonanzen tödlich wirken konnten.
    Aber macht das einen Unterschied? sinnierte sie. Ob ich so sterbe oder vor Furcht einen Herzschlag kriege? Sie spürte, wie sie losließ, sich auflöste, doch es geschah alles so allmählich, war so … unwichtig. Der Tod durch Erfrieren war angeblich ein gnädiger Tod. Körper und Geist trennten sich, die quälende Kälte fühlte sich auf einmal warm an, und zuletzt kam der Schlaf wie ein Freund. Dies hier mußte ungefähr so sein.
    Aber ich will nicht sterben, dachte sie flüchtig und glaubte sogar ein wenig daran. Auch wenn es nicht weh tut. Ich will den Faden nicht zerreißen.
    Stephen nie mehr wiedersehen, Martine nicht und die anderen nicht, Fredericks … und !Xabbu … Das war aus seinem Gedicht, nicht wahr? Es ging dabei um den Tod – oder bloß um einen Faden …?
     
»Leute, bestimmte Leute waren es,
    Die mir den Faden zerrissen,
    Darum
    Ist mir dieser Ort jetzt verödet,
    Weil der Faden gerissen ist.«
     
    Sie konnte es ihn beinahe sagen hören, seine sanfte Stimme, seine leicht fremdartige Sprachmelodie, wenn er an unerwarteten Stellen schneller wurde und dann mittendrin auf einer Silbe verharrte, sie geradezu sang. !Xabbu .
     
»Der Faden riß mir.
    Darum
    Ist mir dieser Ort nicht mehr,
    Wie er einst war,
    Weil der Faden gerissen ist.«
     
    Was war der nicht gerissene Faden gewesen? Ein Leben? Ein Traum? Das Band, von dem das Universum zusammengehalten wurde?
    Das alles in einem?
    Jetzt konnte sie es hören, als ob er neben ihr stünde, wie er in so vielen Notsituationen neben ihr gestanden hatte, eine beständige Flamme in allen Finsternissen.
     
»Dieser Ort ist mir,
    Als ob er offen stünde,
    Leer,
    Weil der Faden riß,
    Darum
    Ist dieser Ort jetzt freudlos,
    Weil der Faden gerissen ist.«
     
    Dieser Ort ist jetzt freudlos, wiederholte sie sich. Weil der Faden gerissen ist. Weil ich allein bin.
    Dieser Ort ist mir, als ob er offen stünde, sagte sie zu der Dunkelheit, während sie dahinschwamm und verging, ein Stück Treibgut, das ein ängstlich weglaufendes Kind-Ding zurückgelassen hatte.
    Leer, flüsterte es in der glitzernden Stille. Weil der Faden gerissen ist.
    Leicht befremdet sank sie weiter und versuchte sich darüber klarzuwerden, was da eben in ihr zerfaserndes Bewußtsein gedrungen war. Eine Stimme. Eine Stimme?
    Das Betriebssystem, dachte sie. Es ist zu mir zurückgekehrt. Was »zurück« auch bedeuten mag. Was »zu mir« auch bedeuten mag … Das Denken fiel ihr immer schwerer.
    Weil der Faden gerissen ist.
    Der Worthauch wehte sie durch die Leere an, aber ohne jedes Geräusch, mehr als ein Geräusch und zugleich weniger. Es war ein Flimmern wie von einer fernen Explosion im Vakuum, eine winzige Wärmeschwingung am

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