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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wirklichen, lebendigen Sternen schlafen zu lassen?«
    »Nein.«
    Er ließ ihre Hand los und beugte sich zu etwas neben der Bank hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine kleine rote Blüte in der Hand. »Erinnerst du dich noch an die Blume, die ich einmal für dich machte? Am ersten Tag, als du mir zeigtest, wie deine virtuelle Welt funktioniert?«
    »Na klar.« Wie gebannt starrte sie auf die Blütenblätter, leicht ausgefranst an einer Kante, wo ein kleines Maul daran geknabbert hatte, auf ihre satte, rote, samtige Farbe, auf den goldenen Blütenstaubtupfer an !Xabbus braunem Handgelenk. »Sie war sehr hübsch.«
    »Die hier habe ich nicht gemacht«, sagte er. »Sie ist echt, und sie wird sterben. Aber jetzt, in diesem Augenblick, können wir sie zusammen anschauen. Das ist doch etwas, oder?«
    Er reichte sie ihr. Sie führte sie an die Nase und schnupperte daran.
    »Du hast recht.« Sie faßte wieder seine Hand. Etwas in ihr, das seit ihrem Ausstieg aus dem Tank verklemmt und in sich verschlossen gewesen war, begann sich endlich zu öffnen und entfaltete seine Flügel in ihrem Herzen. »Ja. Doch, unbedingt. Das ist etwas.«
    Die Straßenlaternen gingen an, aber hinten im Park spielten die Kinder weiter, ohne sich am Einbruch der Dunkelheit zu stören.

Ausblick
    > Sogar die Geräusche der Schlacht waren jetzt beinahe verklungen, und er hörte das Donnerkrachen der schweren deutschen Geschütze nur noch als einen tiefen Baß, dessen leises Rumpeln im Hintergrund ihm keine Furcht mehr einflößte. Er schwamm auf unbegreifliche Weise nach oben, angezogen von einem Licht wie der ersten Morgenröte, und im Aufsteigen hörte er wieder ihre Stimme, die Traumstimme, die so lange zu ihm gesprochen hatte.
    »Paul! Geh nicht von uns!«
    Doch etwas daran war jetzt anders – alles war irgendwie anders. Er hatte sie so viele Male gehört, beinahe gefühlt, eine Erscheinung mit Flügeln, mit flehenden Augen, doch erst jetzt, wo er dem heller werdenden Licht entgegenstrebte und nicht wußte, wie ihm geschah, sah er sie ganz. Sie schwebte vor ihm, die Arme ausgebreitet. Ihre Flügel, erkannte er, waren ein Netz von Rissen, durch die Lichtstrahlen drangen. Ihr Gesicht war traurig, unendlich traurig, aber irgendwie nicht ganz real, wie eine Ikone, die immer wieder übermalt worden war, bis das ursprüngliche Gesicht praktisch unkenntlich war.
    »Geh nicht, Paul!« bat sie. Zum erstenmal lag noch mehr als Traurigkeit in ihren Worten, ein fordernder Ton, ein hoffnungsloser, harter Befehl.
    Er wollte ihr antworten, aber er konnte nicht sprechen. Endlich erkannte er sie. Alles strömte ihm ins Gedächtnis zurück – der Turm, die Lügen, die furchtbaren letzten Augenblicke. Auch ihr Name.
    »Ava!« Doch als er ihn aussprach, als er endlich die Stimme wiederfand, war sie fort.
    Und da wachte er auf.
     
    Zunächst dachte er, das endlose Grauen ginge einfach weiter, er wäre nur in den nächsten Albtraum geraten, wo sich ihm anstelle des Chaos der Schlacht und des surrealen Riesenschlosses eine andere gräßliche Todesvision bot – weiße Wände, gesichtslose weiße Phantome. Dann nahm einer der Ärzte seine Chirurgenmaske ab und richtete sich auf. Er hatte ein ganz normales Gesicht, das Gesicht eines Fremden.
    »Er ist da.«
    Die anderen stellten sich ebenfalls aufrecht hin und wichen zurück, und eine neue Gestalt im Chirurgenkittel wurde sichtbar, ein lächelnder Mann mit asiatischen Zügen, der sich über ihn beugte.
    »Herzlich willkommen, Herr Jonas«, sagte er. »Mein Name ist Owen Tanabe.«
    Paul konnte ihn nur begriffsstutzig anstarren. Er ließ seine Augen durch den weitläufigen weißen Raum schweifen, über die langen Apparatereihen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er war.
    »Du bist zweifellos ein wenig verwirrt«, fuhr Tanabe fort. »Das ist völlig verständlich – ruh dich so lange aus, wie du möchtest. Wir haben dich in einem Erste-Klasse-Zimmer untergebracht; der Raum ist in dieser Klinik ansonsten für Kranke von Rang und Namen reserviert.« Er lachte kurz auf. Der Mann war offensichtlich nervös. »Aber du bist gar nicht krank, Herr Jonas, nur vielleicht noch ein wenig schwach. Und bei unserer guten Pflege wirst du sicher bald wieder bei Kräften sein.«
    »Wo … wo bin ich?«
    »In Portland, Oregon, Herr Jonas. Im Gateway Hospital. Du bist dort als Gast der Telemorphix Corporation.«
    Erinnerungsbruchstücke trieben nach oben, aber sie machten ihn nur noch konfuser. »Telemorphix …?

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