Owen Meany
meiner
Mutter bekommen.
»John?« flüsterte Germaine, wenn sie den Geheimgang betrat. Die eine
Glühbirne am unteren Ende der gewundenen Treppe erleuchtete den Gang immer nur
spärlich. »Owen?« fragte sie. »Seid ihr hier drin? Erschreckt mich nicht.«
Und Owen und ich warteten dann, bis sie hinter der Ecke des L -förmigen Ganges zwischen den schulterhohen,
schmalen, staubigen Regalen war – unter dem Zickzackmuster der Marmeladen- und
Geleegläserschatten an der mit Spinnweben bedeckten Decke; die höheren,
unregelmäßigeren Schatten der größeren [269] Gläser
mit Mixed Pickles und den in Brandy eingelegten Pflaumen waren so bedrohlich
und verzerrt wie erstarrte Lava.
»FÜRCHTE DICH NICHT «, flüsterte Owen Germaine
in der Dunkelheit zu; und einmal, in diesen Weihnachtsferien, brach Germaine in
Tränen aus. » ES TUT MIR LEID «, rief Owen hinter ihr
her. » ICH BIN’S DOCH NUR!«
Aber vor Owen hatte Germaine besonders viel Angst. Sie glaubte an
das Übernatürliche, an etwas, das sie »Zeichen« nannte – zum Beispiel an die
alltägliche Verstümmelung und anschließende Ermordung eines Rotkehlchens durch
eine der Katzen in der Front Street; Zeuge dieser Tortur zu werden war ein
»sicheres Zeichen«, daß man selbst in eine noch schwerwiegendere Gewalttat
verwickelt werden würde. Auch Owen selbst war »ein Zeichen« für die arme
Germaine; mit seiner winzigen Größe war er ihrer Meinung nach fähig, in den
Körper und die Seele eines anderen Menschen einzudringen – und diesen dann dazu
zu veranlassen, unnatürliche Dinge zu tun.
Bei einem Gespräch während des Abendessens wurde mir Germaines
Ansicht bezüglich jenes unnatürlichen Aspekts von
Owen deutlich. Meine Großmutter hatte mich gefragt, ob Owen oder seine Familie
sich jemals die Mühe gemacht hatte, herauszufinden, ob man etwas gegen die
Stimme von Owen »unternehmen« könne – »medizinisch, meine ich«, sagte
Großmutter, und Lydia nickte so heftig, daß ich fürchtete, ihre Haarspangen
würden gleich auf den Teller fallen.
Ich wußte, daß meine Mutter Owen gegenüber einmal erwähnt hatte, ihr
damaliger Sprech- und Gesangslehrer könne ihm vielleicht einen guten Rat geben – oder ihm sogar Übungen zeigen, damit Owen, nun ja, etwas normaler sprechen könnte. Bei der bloßen Erwähnung jenes Sprech- und
Gesangslehrers tauschten Großmutter und Lydia ihre üblichen Blicke aus; ich
erklärte weiter, daß Mutter sogar Name und Adresse dieser mysteriösen Person
aufgeschrieben und Owen diese Information weitergegeben [270] hatte. Ich war ganz sicher, daß Owen nie Kontakt zu dem Lehrer
aufgenommen hatte.
»Und warum nicht?« wollte Großmutter wissen. Ja,
genau, warum nicht? schien Lydia unter heftigem Kopfnicken zu fragen.
Lydias Nicken war das deutlichste Zeichen dafür, wie
weit ihre Senilität der meiner Großmutter bereits voraus war – hatte meine
Großmutter mir insgeheim einmal anvertraut. Großmutter war extrem – fast
klinisch – interessiert an Lydias Senilität, denn sie betrachtete Lydias
Verhalten als Barometer dafür, was sie in Bälde von sich selbst zu erwarten hatte.
Ethel räumte den Tisch mit ihrer seltsamen Mischung aus Aggression
und Trägheit ab; sie nahm zu viele Teller auf einmal, und blieb dann so lange
damit am Tisch stehen, daß man sicher sein konnte, sie würde einige wieder
zurückstellen. Heute glaube ich, daß sie einfach nur überlegte, wohin sie mit
den Tellern gehen sollte. Germaine räumte ebenfalls ab – so wie eine
verkrüppelte Schwalbe angeflogen kommt, um eine Brotkrume vom Picknick zu
ergattern. Germaine nahm zuwenig mit – immer nur einen Löffel, und oft den
falschen; oder sie nahm einem die Salatgabel weg, noch ehe der Salat
aufgetragen war. Aber wenn sie die Mahlzeiten auch nur geringfügig störte,
schwebte doch über dem Ganzen immer ihre starke Neigung zu Unfällen. Wenn Ethel
kam, fürchtete man, daß einem ein Berg Teller in den Schoß fiel – doch das
geschah nie. Wenn Germaine kam, paßte man wie ein Luchs auf seinen Teller und
das Besteck auf, fürchtete, daß sie etwas wegnahm, was man noch brauchte, und
daß bei dieser plötzlichen, gedankenlosen Attacke das Wasserglas umgeworfen
würde – und das geschah oft. In dieser prekären Situation also – als der Tisch
abgeräumt wurde – verkündete ich meiner Großmutter und Lydia, warum Owen Meany
den Rat von Mutters Sprech- und Gesangslehrer nicht gesucht hatte.
»Owen hält es nicht für richtig, seine Stimme zu
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