Owen Meany
ändern«, sagte ich.
[271] Ethel, die gerade unter der
beträchtlichen Last der beiden Fleischplatten, der Salatschüssel und all
unserer Teller auf die Küche zusteuerte, blieb stehen. Meine Großmutter, die
Germaines hektisches Herannahen spürte, hielt ihr Wasserglas in einer Hand und
ihr Weinglas in der anderen. »Warum um alles in der Welt hält er es nicht für richtig ?« fragte sie, während Germaine aufs Geratewohl
nach der Pfeffermühle griff und den Salzstreuer stehenließ.
»Er glaubt, seine Stimme hat einen besonderen Zweck; daß es einen Grund gibt, warum seine Stimme so ist«, meinte ich.
»Was für einen Grund denn?« fragte meine
Großmutter.
Ethel war an der Küchentür angelangt, doch sie schien zu warten,
drehte sich mit ihrer Ladung Geschirr um und überlegte vielleicht, ob sie sie
nicht ins Wohnzimmer tragen solle. Germaine stellte sich direkt hinter Lydias
Stuhl, was Lydia nervös machte.
»Owen meint, seine Stimme kommt von Gott«, sagte ich ruhig, und im
gleichen Moment ließ Germaine – die gerade nach Lydias unbenutztem Löffel für
den Nachtisch greifen wollte – die Pfeffermühle in Lydias Wasserglas fallen.
»Grundgütiger Himmel!« sagte Lydia; das war ein Lieblingsausdruck
meiner Großmutter, und Großmutter warf Lydia einen Blick zu, als sei dieser
Diebstahl ihrer Lieblingswendung ein weiterer Beweis dafür, daß Lydias
Senilität ihrer eigenen voraus war.
Zum allgemeinen Erstaunen sprach Germaine:» Ich glaube, seine Stimme kommt vom Teufel«, sagte sie.
»Unsinn!« erwiderte meine Großmutter unwirsch. »Sie kommt weder von
Gott noch vom Teufel! Sie kommt vom Granit, daher kommt sie. Er hat als Baby zu viel Staub eingeatmet! Deswegen ist seine Stimme so komisch,
und deswegen ist er auch so klein!«
Lydia nickte und hielt Germaine von dem Versuch ab, die [272] Pfeffermühle aus ihrem Wasserglas zu fischen;
sicherheitshalber tat sie es selbst. Ethel stolperte mit großem Getöse gegen
die Küchentür; die Tür schwang weit auf, und Germaine floh aus dem Eßzimmer – mit leeren Händen.
Meine Großmutter seufzte tief; selbst auf Großmutters Seufzer
antwortete Lydia mit einem Kopfnicken – einem eher bescheidenen, kurzen Nicken.
»Von Gott «, wiederholte meine Großmutter verächtlich.
Und dann sagte sie: »Die Adresse und die Telefonnummer dieses Sprech- und
Gesangslehrers… dein kleiner Freund wird sie wohl nicht behalten haben – nicht,
wenn er sie nicht benutzen wollte, oder?« Auf diese geschickte Frage hin
tauschten Großmutter und Lydia wieder ihre vielsagenden Blicke aus; doch ich
dachte sorgfältig über diese Frage nach – ihre vielen Bedeutungsebenen waren
mir klar. Ich wußte, daß meine Großmutter davon nichts gewußt hatte – und wie
sehr mußte es sie interessieren! Ich wußte auch, daß Owen diese Information ganz bestimmt nicht weggeworfen hatte; daß er nie die
Absicht hatte, die Information zu benutzen, tat nichts zur Sache. Owen warf
selten etwas weg; und etwas, das er von meiner Mutter bekommen hatte, das würde
er nicht nur nicht wegwerfen – er würde es in einem Schrein aufbewahren!
Ich verdanke meiner Großmutter sehr viel – darunter auch, wie man
geschickte Fragen stellt. »Warum sollte er sie aufheben?« fragte ich unschuldig
zurück.
Wieder seufzte meine Großmutter; wieder nickte Lydia. »Genau,
warum«, sagte Lydia traurig. Jetzt war meine Großmutter mit Nicken dran. Sie
wurden beide alt und schwach, bemerkte ich, doch ich dachte darüber nach, warum ich für mich behielt, daß Owen wahrscheinlich im
Besitz von Adresse und Telefonnummer des Gesangslehrers war. Ich wußte nicht, warum – damals. Heute weiß ich, daß Owen Meany
sofort gesagt hätte, das sei »KEIN ZUFALL«.
Und was hätte er zu unserer Entdeckung gesagt, daß wir in [273] jenen Weihnachtsferien nicht die alleinigen
Benutzer der leeren Zimmer von Waterhouse Hall waren? Wäre es für ihn ebenfalls »KEIN ZUFALL « gewesen, daß wir (eines Nachmittags) bei
unserer üblichen Inspektion eines Zimmers im ersten Stock hörten, wie sich ein
zweiter Generalschlüssel ins Schlüsselloch schob? Ich war blitzschnell im
Kleiderschrank verschwunden und hoffte, daß die leeren Kleiderhaken nicht mehr
so laut klappern würden, wenn der neue Eindringling das Zimmer betrat. Owen
verkroch sich unter dem Bett; er lag auf dem Rücken und hielt die Arme vor der
Brust verschränkt, wie ein Soldat, der hastig ins Grab gelegt wurde. Zuerst
dachten wir, Dan hätte uns erwischt –
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