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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war.
    Ich klopfte nicht an; das Bündel Kiefernzweige an der Tür versperrte
einem sowieso den natürlichen Platz zum Anklopfen. Mr.   Meany stand am Kaminsims
und sah entweder ins Feuer oder auf die Krippe. »Hab nur meine Mütze
vergessen«, sagte ich, als er zu mir herüberschaute.
    Ich klopfte auch nicht an die Tür zu Owens Zimmer. Zuerst dachte
ich, die Schneiderpuppe habe sich bewegt; ich dachte, sie habe es irgendwie
fertiggebracht, ihre Hüfte zu beugen und sitze jetzt auf Owens Bett. Dann
erkannte ich, daß Mrs.   Meany auf dem Bett saß; sie hatte den Blick auf die
Gestalt meiner Mutter geheftet und hörte nicht auf zu starren, als ich das
Zimmer betrat.
    »Hab nur meine Mütze vergessen«, wiederholte ich; ob sie mich hörte,
wußte ich nicht.
    Ich setzte mir die Mütze auf, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür
so leise ich konnte hinter mir, als sie sagte: »Das mit deiner armen Mutter tut
mir leid«, es war das erste Mal, daß Mrs.   Meany mit mir redete. Ich lugte
zurück ins Zimmer. Mrs.   Meany hatte sich nicht bewegt, sie saß mit leicht zur
Puppe geneigtem Kopf da, als erwarte sie Anweisungen.
    Es war Mittag, als Owen und ich unter der Eisenbahnbrücke am Fluß
des Maiden Hill durchgingen, ein paar hundert Meter unterhalb des
Meany-Granitsteinbruchs; Jahre später sollte der Brückenkopf den Tod für Buzzy
Thurston bedeuten, der sich erfolgreich um die Einberufung gedrückt hatte. Doch
in diesem Dezember 1953, als Owen und ich unter dieser Brücke entlangliefen,
war es das erste Mal, daß wir gleichzeitig mit dem Flying
Yankee dort ankamen – dem Schnellzug, der in nur zwei Stunden von [265]  Portland nach Boston fuhr. Jeden Mittag kreischte
er durch Gravesend; und obgleich Owen und ich ihn schon vom Gravesend Depot aus
durch die Stadt jagen gesehen hatten, und obwohl wir schon Münzen auf die
Schienen gelegt hatten, damit der Flying Yankee sie
plattwalzte, so waren wir doch noch nie genau zu dem Zeitpunkt unter der Brücke
gewesen, wenn der Flying Yankee darüberfuhr. Ich
dachte noch immer an Mrs.   Meanys flehende Haltung vor der Schneiderpuppe meiner
Mutter, als die Brücke zu erbeben begann. Feiner Staub rieselte von den
Schwellen und den Strebepfeilern herunter und legte sich auf Owen und mich;
selbst der Brückenkopf aus Beton wurde erschüttert, und wir schützten unsere
Augen vor dem herabfallenden Sand und schauten nach oben, um den gigantischen,
dunklen Bauch des Zuges, der über uns hinwegraste, zu sehen. Durch die Lücken
zwischen den einzelnen Waggons sahen wir den bleiernen Winterhimmel zu uns
herabblitzen.
    »DAS IST DER FLYING YANKEE !« überschrie Owen das Dröhnen. Jeder Zug war etwas Besonderes für Owen Meany, der
noch nie in einem Zug gefahren war; doch der Flying Yankee – seine furchteinflößende Geschwindigkeit und seine Weigerung, in Gravesend
anzuhalten – stellte für Owen den Höhepunkt des Reisens dar. Owen (der niemals
irgendwohin gekommen war) war sehr romantisch, wenn es ums Reisen ging.
    »Was für ein Zufall!« sagte ich, als der Flying
Yankee vorbei war; ich meinte damit, daß es wirklich außergewöhnliches
Glück war, das uns genau zum Mittag unter die Brücke geführt hatte, doch Owen
lächelte mich mit seiner besonders nervigen Mischung aus mildem Bedauern und
Verachtung an. Natürlich, heute weiß ich, daß Owen nicht an Zufälle glaubte,
Owen Meany glaubte, daß »Zufall« eine dumme, oberflächliche Hilfskonstruktion
von dummen, oberflächlichen Menschen sei, die die Tatsache nicht akzeptieren
konnten, daß ihr Leben nach einem schrecklichen und ehrfurchtgebietenden Plan
gestaltet war – mächtiger und unaufhaltsamer als der Flying
Yankee.
    [266]  Das Hausmädchen, das sich um
Großmutter kümmerte, das Hausmädchen, das Lydia ersetzte, nachdem diese ihre
Amputation durchlitten hatte, hieß Ethel, und sie mußte die unterschwelligen
Vergleiche ertragen, die sowohl Lydia als auch meine Großmutter in bezug auf
ihre Arbeitstüchtigkeit anstellten. Ich sage deshalb »unterschwellig«, weil
meine Großmutter und Lydia diese Vergleiche nie direkt mit Ethel besprachen;
sondern Großmutter sagte in Ethels Beisein: »Wissen Sie noch, Lydia, wie Sie
immer die Marmeladen- und Geleegläser vom Regal im Kellergang – wo sie so
staubig werden – in die Küche gebracht und sie dort nach Datum geordnet in eine
Reihe gestellt haben?«
    »Ja, das weiß ich noch«, antwortete Lydia dann.
    »Da konnte ich sie mir ansehen und sagen: ›Also, dieses hier

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