Owen Meany
sollten
wir wegwerfen – es scheint hier nicht besonders beliebt zu sein, und es ist
schon zwei Jahre alt.‹ Erinnern Sie sich daran?« fragte Großmutter.
»Ja. Einmal haben wir das ganze Quittengelee weggeworfen«, erwiderte
Lydia.
»Es war einfach schön zu wissen, was wir alles da unten im Gang
stehen hatten«, bemerkte Großmutter.
»Man muß darauf achten, daß einem die Dinge nicht über den Kopf
wachsen, sage ich immer«, erklärte Lydia.
Und am nächsten Morgen holte die arme Ethel – auf die genaue, nur
leider indirekte Anweisung hin – natürlich alle Marmeladen- und Geleegläser
nach oben und staubte sie für Großmutters Inspektion ab.
Ethel war eine kleine, korpulente Frau mit robuster,
unerschöpflicher Kraft; doch ihre körperliche Stärke wurde durch einen
langsamen Geist und einen schrecklichen Mangel an Selbstvertrauen
beeinträchtigt. Ihre Bewegungen waren selbst bei etwas so Einfachem wie Putzen
charakterisiert durch kräftiges Schwingen der kurzen, kräftigen Arme –, doch
diese [267] zuversichtlichen Bemühungen wurden
begleitet von den zögerlichen, ungelenken Schritten ihrer kurzen, dicken Beine
auf den dicken Fußgelenken; sie stolperte oft. Owen sagte, sie schalte viel zu
langsam, als daß sie jemals einen richtigen Schreck kriegen könnte, und deshalb
ließen wir sie meist in Ruhe – selbst wenn sich für uns Gelegenheiten ergaben,
sie zu überraschen, im Dunkeln, im Geheimgang. Auch in dieser Hinsicht war
Ethel Lydia unterlegen, denn es hatte uns großen Spaß gemacht, Lydia immer
wieder zu erschrecken, als sie noch beide Beine hatte.
Das Hausmädchen, das sich um Lydia kümmern sollte, war ein völlig
anderer Typ. Sie hieß Germaine, und sowohl Lydia als auch Ethel schikanierten
sie; meine Großmutter ignorierte sie ganz bewußt. Und in diesem verächtlichen
Frauenhaushalt hatte die arme Germaine den Nachteil, jung zu sein – und noch
dazu fast hübsch, auf eine scheue Art, wie eine Maus. Sie besaß die nicht näher
zu definierende Ungeschicklichkeit von Menschen, die sich derart darum bemühen,
nicht aufzufallen, daß sie auffällig unbeholfen wirken – ohne es zu wollen, zog
Germaine stets jedermanns Aufmerksamkeit auf sich; ihre geradezu
elektrisierende Nervosität störte die Atmosphäre um sie herum.
Fenster, an denen sich Germaine vorbeischleichen wollte, knallten
plötzlich zu; Türen gingen von allein auf. Wertvolle Vasen wackelten, wenn
Germaine sich ihnen näherte; wenn sie die Hände ausstreckte, um sie
aufzufangen, zerbrachen sie. Lydias Rollstuhl funktionierte in dem Moment nicht
mehr, in dem Germaine ihn mit zitternden Händen berührte. Das Licht im
Kühlschrank ging aus, sowie Germaine die Tür aufmachte. Und wenn das
Garagenlicht über Nacht angelassen worden war, stellte sich – bei Großmutters
frühmorgendlicher Befragung – heraus, daß Germaine als letzte zu Bett gegangen
war.
»Wer als letzter zu Bett geht, macht die Lichter aus«, meinte Lydia
dann, als bete sie eine Litanei herunter.
»Ich war nicht nur im Bett, sondern hab auch schon geschlafen, [268] als Germaine zu Bett gegangen ist«, verkündete
Ethel dann. »Das weiß ich genau, denn sie hat mich aufgeweckt.«
»Es tut mir leid«, flüsterte Germaine.
Meine Großmutter seufzte, schüttelte den Kopf, als seien mehrere
Zimmer des großen Hauses über Nacht abgebrannt und es gäbe nichts mehr zu
retten – und auch nichts mehr zu sagen.
Doch ich weiß, warum meine Großmutter sich bemühte, Germaine zu
ignorieren. Großmutter hatte in einer Anwandlung von typisch amerikanischer
Sparsamkeit Germaine alle Kleider meiner Mutter gegeben. Germaine war etwas zu
klein für die Kleider, obwohl es die schönsten Kleider waren, die sie je
besessen hatte und sie sie glücklich und voller Ehrfurcht trug – Germaine
merkte nicht, daß es Großmutter zu naheging, sie in solch schmerzlich
vertrauter Tracht zu sehen. Vielleicht hatte Großmutter nicht gewußt, wie nahe
es ihr gehen würde, Germaine in diesen Kleidern zu sehen, als sie sie ihr gab;
und sie war zu stolz, diesen Fehler zuzugeben. Sie konnte nur wegschauen. Daß
die Kleider Germaine nicht paßten, wurde Germaine zugeschrieben.
»Sie sollten mehr essen, Germaine«, sagte Großmutter oft, ohne sie
dabei anzusehen – und somit ohne mitzubekommen, wieviel Germaine tatsächlich
aß; sie merkte nur, daß die Kleider meiner Mutter an ihr herunterhingen. Doch
Germaine hätte sich vollstopfen können, sie hätte doch nie die Brüste
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