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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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genug; und Dan
hielt es für sicherer, wenn ich nicht auf öffentlichen Straßen übte, [399]  obwohl die Fahrzeuge der Meany Granite Company
auf diesen Strecken höchst leichtsinnig dahinbretterten.
    Die Steinbrucharbeiter waren furchtlose Fahrer, und sie
transportierten den Granit und die Werkzeuge mit Höchstgeschwindigkeit; doch im
Sommer wirbelten sie so viel Staub auf, daß Dan und ich rechtzeitig merkten,
wenn einer kam – ich hatte immer genug Zeit, um an die Seite zu fahren, während
Dan mir sein Lieblingszitat aus Julius Caesar vortrug.
    Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt,
    Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.
    Woraufhin sich Dan am Armaturenbrett festklammerte und zitterte,
während ein Laster mit Dynamit an uns vorbeipreschte.
    Von allen Wundern, die ich je gehört,
    Scheint mir das größte, daß sich Menschen fürchten,
    Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller,
    Kommt, wann er kommen soll.
    Auch Owen war von dieser Stelle begeistert. Als wir Dans Aufführung
des Stückes später in diesem Sommer sahen, hatte ich meinen Führerschein
bestanden; abends jedoch, wenn Owen und ich zur Uferpromenade und zum Kasino in
Hampton Beach fuhren, nahmen wir den tomatenroten Kleintransporter, und Owen
saß immer am Steuer. Ich bezahlte das Benzin. An diesen Sommerabenden 1958
fühlte ich mich zum ersten Mal »erwachsen«; eine halbe Stunde Fahrt von
Gravesend mußten wir jedesmal in Kauf nehmen für das kurze Vergnügen, in
unserem Vehikel die überfüllte, bunte Uferpromenade entlang zu schleichen und
dabei Mädchen anzuschauen, die nur selten auf uns sahen. Manchmal sahen sie auf
den Transporter. Wir konnten die Promenade immer nur zwei- oder dreimal auf-
und abfahren, ehe ein Polizist uns zur [400]  Seite
winkte, Owens Führerschein ungläubig in Augenschein nahm und uns dann riet,
doch irgendwo zu parken und uns die Mädchen zu Fuß anzusehen, entweder auf der
Promenade oder auf dem Fußgängerweg neben den Spielhallen.
    Es war nicht ratsam, mit Owen Meany die Strandpromenade entlangzu gehen; er war so auffällig klein und wurde daher von den
Halbstarken, die an den Flipperautomaten herumlümmelten und in der erregenden
Nähe der sommerlich leicht bekleideten Mädchen auf und ab stolzierten, ständig
aufgezogen und angerempelt. Und die Mädchen, die unsere Blicke nur selten
erwiderten, wenn wir sicher im Transporter der Meany Granite Company saßen,
musterten Owen ausgiebig (und kichernd), wenn wir zu Fuß unterwegs waren. Wenn
er nicht im Auto saß, traute sich Owen nicht, die Mädchen anzusehen.
    Deshalb fuhren wir, wenn uns ein Polizist anwies, den Transporter zu
parken und unsere Interessen »zu Fuß« weiterzuverfolgen, wieder zurück nach
Gravesend. Oder wir fuhren an einen am Tage beliebten Badestrand – nach Little
Boar’s Head, der abends wunderbar leer war. Wir saßen auf der Mauer zum Strand,
spürten die kalte Luft, die vom Meer her wehte, und schauten auf die glitzernde
Gischt. Oder wir fuhren nach Rye Harbor, setzten uns auf den Wellenbrecher und
sahen zu, wie die kleinen Boote auf der Wasseroberfläche, die gekräuselt war
wie die eines Teiches, hin und her schaukelten; der Wellenbrecher selbst
bestand aus gebrochenen Granitplatten aus dem Steinbruch der Meanys.
    »DESWEGEN HAB ICH EIN RECHT, HIER ZU SITZEN«, sagte
Owen immer; natürlich hat uns nie jemand dieses Recht streitig gemacht.
    Obwohl uns die Mädchen in diesem Sommer ignorierten, fiel mir damals
auf, daß Owen auf Frauen anziehend wirkte – nicht nur auf meine Mutter.
    Es ist schwierig zu sagen, worin diese Anziehungskraft bestand; doch
selbst im Alter von sechzehn Jahren, selbst als er [401]  besonders
schüchtern und linkisch war, sah er aus wie jemand, der sich das, was er von
der Welt begriffen hatte, erarbeitet hatte.
Wahrscheinlich war mir dieser Aspekt besonders bewußt, da er sich wahrhaftig so
viel mehr erarbeitet hatte als ich mir. Nicht nur,
daß er in der Schule besser war oder besser Auto fahren konnte oder so in sich
gefestigt war; er war jemand, mit dem ich aufgewachsen war, den ich immer
geärgert hatte – ich hatte ihn hochgehoben und weitergereicht, hatte mich über
seine Winzigkeit genauso lustig gemacht wie die anderen Kinder –, und doch
schien er nun im Alter von sechzehn Jahren alles im Griff zu haben. Er hatte
sich selbst besser im Griff als wir andern, ja er hatte uns besser im Griff als wir andern – und Frauen, selbst den Mädchen, die ständig
kicherten, wenn sie ihn ansahen,

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