Owen Meany
Katherine hat ein sonnigeres Gemüt als meine Großmutter, aber sie
besitzt eine Art von augenzwinkerndem Sarkasmus – und die Redegewandtheit, die
sorgfältige Wortwahl – die mich an meine Großmutter erinnert. Sie würden
einander mögen; Owen hätte Rev. Mrs. Keeling auch gemocht.
Es wäre falsch, wenn ich den Eindruck erweckte, bei den
sonntäglichen Mittagessen der Internatsschülerinnen herrsche eine Atmosphäre
der Einsamkeit. Vielleicht fühlen sich die Mädchen gerade bei dieser
Gelegenheit einsam, aber mir geht es da immer gut. Rituale haben etwas
Tröstliches; Rituale sind gut gegen Einsamkeit.
Am Palmsonntag wurde viel über das Wetter gesprochen. In der Woche
davor war es so kalt gewesen, daß der alljährliche Fehler der Zugvögel
allgemeines Gesprächsthema gewesen war. In jedem Frühjahr fliegen – zumindest
in Kanada – einige Vogelarten zu früh nach Norden. Tausende von ihnen werden
von der Kälte überrascht und treten den Rückzug nach Süden an. Am häufigsten
wurde das Elend der Rotkehlchen und der Stare geschildert. Katherine hatte
einige Regenpfeifer nach Süden fliegen sehen – ich beeindruckte sie alle mit
einer Geschichte über Schnepfen. Wir [395] hatten
in dieser Woche alle The Globe and Mail gelesen: mit
besonderem Vergnügen den Artikel über die Truthahngeier, die »vereist« waren
und nicht mehr fliegen konnten; man hielt sie für Falken und brachte sie zum
Auftauen zu einer Station des Tierschutzvereins – es waren neun Vögel, und alle
neun erbrachen sich auf ihre Betreuer. Wie sollten die auch wissen, daß
Truthahngeier sich übergeben, wenn sie sich angegriffen fühlen. Wer würde schon
damit rechnen, daß Truthahngeier so gewitzt sind?
Es wäre gleichfalls falsch, wenn ich den Eindruck erweckt hätte, daß
die sonntäglichen Mittagessen von Trivialitäten beherrscht werden; diese Essen
sind wichtig für mich. Am Palmsonntag spazierte ich anschließend mit Katherine
hinüber zur Grace Church, und wir trugen uns auf der Liste am schwarzen Brett
in der Vorhalle für die Passionsnachtwache ein. Jedes Jahr wird von neun Uhr
abends am Gründonnerstag bis neun Uhr morgens am Karfreitag eine Gebets- und
Kontemplationsnachtwache gehalten. Katherine und ich wählen immer die Stunden,
die sonst niemand will; wir wachen von drei bis fünf Uhr morgens, wenn ihr Mann
und ihre Kinder schlafen und sie nicht brauchen.
Dieses Jahr warnte sie mich: »Es kann sein, daß ich nicht ganz
pünktlich komme – falls es mit dem Zwei-Uhr-Stillen wesentlich später wird!«
Sie lacht, und ihr liebenswert dünner Hals wirkt in dem Kollarhemd besonders
verletzlich. Ich sehe eine ganze Reihe Eltern von Schülerinnen – sie sind so
schick gekleidet, fahren Jaguars, haben nie Zeit für ein Gespräch. Ich weiß,
daß Rev. Mrs. Katherine Keeling für sie ein Oberlehrerinnentyp ist, wie er im
Buche steht – nicht der Typ Frau, dem sie mehr als einen Blick widmen würden.
Doch sie ist klug und freundlich und geistreich und redegewandt; und macht
sich, was Ostern betrifft, nichts vor.
»OSTERN IST EBEN OSTERN«, meinte Owen
Meany.
In der Christ Church sagte Rector Wiggin am Ostersonntag immer:
»Halleluja. Christus ist auferstanden.«
[396] Und wir, die Gemeinde,
antworteten: »Wahrlich, der Herr ist auferstanden. Halleluja.«
Toronto, 19. April 1987. Ein feuchtwarmer Ostersonntag. Es ist
gleichgültig, mit welchem Präludium der Gottesdienst beginnt; ich höre immer
Händels Messias – und den noch nicht völlig sicheren
Sopran meiner Mutter, wie sie singt: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebet.«
An diesem Morgen in der Grace Church saß ich ganz still da und
wartete auf diese Stelle im Johannesevangelium; ich wußte, daß sie kommen
würde.
»Am ersten Tage der Woche kommt Maria Magdalena früh, als es noch
finster war, zum Grab und sieht, daß der Stein vom Grab weg ist. Da läuft sie
und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen J ünger, den Jesu lieb hatte, und
spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen
nicht, wo sie ihn hingelegt haben.«
Ich weiß noch, was Owen immer zu dieser Bibelstelle gesagt hat: In
jedem Ostergottesdienst lehnte er sich an mich und flüsterte mir ins Ohr: »DAS IST DIE STELLE, WO ES MIR JEDESMAL KALT DEN RÜCKEN RUNTERLÄUFT .«
Nach dem Gottesdienst heute blieb ich mit den anderen Kirchgängern
noch eine Weile auf der Kirchentreppe in der Sonne stehen – und auch noch ein
paarmal auf dem Bürgersteig an der
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