Owen Meany
normalen Kleidern zu sehen, ohne
ihre Schuluniformen. Ich weiß, für sie ist es sehr bequem, tagein tagaus ihre
Uniform tragen zu können – da brauchen sie sich keine Gedanken darum zu machen,
was sie anziehen sollen. Doch sie tragen auch ihre Schuluniformen so nachlässig – sie haben so wenig Erfahrung darin, wie man sich kleidet, daß sie, wenn sie
die Wahl haben, wenn sie ihre eigenen Kleider tragen dürfen, noch viel
einfallsloser und klerikaler wirken als in ihren Uniformen.
In den zwanzig Jahren, die ich bereits als Lehrer an der Bishop
Strachan School arbeite, sind sich die Schuluniformen der Mädchen mehr oder
weniger gleich geblieben; ich finde sie mittlerweile ganz nett. Wenn ich ein
Mädchen wäre, gleich welchen Alters, würde ich eine Bluse mit Matrosenkragen,
ein locker verknotetes Halstuch, einen Blazer (mit dem Wappen meiner Schule),
Kniestrümpfe und einen Faltenrock tragen; der sollte bei ihnen gerade so lang
sein, daß er beim Knien den Boden berührt.
Doch beim Mittagessen am Sonntag tragen die Mädchen ihre eigenen
Sachen; einige von ihnen sind so verrückt gekleidet, daß ich sie überhaupt
nicht wiedererkenne – sie machen sich deshalb natürlich über mich lustig. Ein
paar haben sich wie Jungs zurechtgemacht – andere wie ihre eigenen Mütter oder
wie die Flittchen im Kino oder im Fernsehen. Da ich, wie immer, der einzige
Mann im Speisesaal bin, werfen sie sich vielleicht für mich so in Schale.
Meine Freundin – und, beruflich, meine Chefin – Katherine Keeling
hatte ich nicht mehr gesehen, seit ihr letztes Kind zur Welt kam. Sie hat eine
große Familie – ich habe aufgehört, ihre Kinder [393] mitzuzählen –, doch sie versucht nach Möglichkeit, zum Mittagessen am Sonntag hier zu sein,
am Tisch der Hausmütter zu sitzen; da wechselt sie dann ein paar nette Worte
mit den Mädchen, die übers Wochenende nicht wegfahren. Ich finde Katherine
phantastisch; aber sie ist zu dünn. Und es sollte sie eigentlich nicht mehr
überraschen, aber ich bringe sie jedesmal in Verlegenheit, wenn ich sie dabei
erwische, daß sie wieder einmal nichts ißt; ich bin ein viel festerer
Bestandteil dieser sonntäglichen Mittagessen als sie – ich fehle nie aus
Schwangerschaftsgründen! Doch an diesem Palmsonntag war sie da, saß vor einem
mit Kartoffelpüree und Truthahn reichlich gefüllten Teller.
»Ein bißchen trocken, das Fleisch, nicht wahr?« fragte ich; die
Damen lachten höflich – Katherine errötete erwartungsgemäß. Wenn sie ihr
Kollarhemd trägt, sieht sie noch etwas untergewichtiger aus, als sie in
Wirklichkeit ist. Sie ist die Person, die mir am nächsten steht in Toronto,
seit Canon Campbell tot ist; und wenn sie auch meine Chefin ist, bin ich doch
schon länger an der Bishop Strachan School als sie.
Als ich angestellt wurde, hieß der Direktor Kilgour, Old Teddybear Kilgour nannten wir ihn. Canon Campbell
machte uns miteinander bekannt. Er war Kaplan an der Bishop Strachan School
gewesen, ehe sie ihm die Grace Church als Pfarrei gaben; ich hätte keinen
Fürsprecher an der Schule finden können, der enger mit ihr »verbunden« gewesen
wäre als Canon Campbell – nicht einmal Old Teddybear Kilgour selbst. Ich necke
Katherine immer noch wegen damals. Und wenn sie Schulleiterin gewesen wäre, als
ich mich bewarb? Hätte sie mich genommen? Einen
jungen Mann aus den Staaten, damals, in den Vietnam-Jahren, einen nicht
unattraktiven jungen Mann, obendrein unverheiratet; in der Bishop Strachan
School hat es nie viele männliche Lehrer gegeben, und ich bin in den zwanzig
Jahren, die ich nun die Mädchen bereits unterrichte, gelegentlich sogar der
einzige gewesen.
Canon Campbell und Old Teddybear Kilgour zählten nicht; sie [394] waren nicht männlich im bedrohlichen Sinn – sie
waren keine potentielle Gefahr für die Mädchen. Obwohl er neben seinen Aufgaben
als Kaplan auch noch Bibelkunde und Geschichte unterrichtete, war Canon
Campbell ein älterer Herr; und er und Old Teddybear Kilgour waren, wie es
Katherine Keeling gerne nennt, »bis zum Hals verheiratet«.
Old Teddybear fragte mich einmal, ob ich »für die Reize junger
Mädchen empfänglich« wäre; doch ich muß ihm den Eindruck vermittelt haben, ich
würde meine Aufgaben als Lehrer ernst nehmen und mich den Köpfen der Mädchen widmen und nicht ihren Körpern.
»Und stimmt das?« fragte mich Katherine Keeling gerne. Wie die
Hausmütter bei dieser Frage kichern – wie vor vielen Jahren bei Liberace die
Studiogäste!
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