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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie wolle uns sagen, sie sei wieder schwanger – von einem anderen Mann!
    Und um ein Beispiel zu geben, wie unrecht meine Tante Martha mit
ihrer Ansicht hatte, meine Mutter sei »ein wenig einfältig«: meine Mutter
erkannte sofort, was wir dachten und meinte lachend: »Nein, nein! Ich werde
kein Kind bekommen. Ich werde nie wieder ein Kind
bekommen – ich hab doch schon mein Kind. Ich wollte
euch nur erzählen, daß ich einen Mann getroffen habe. Einen Mann, den ich mag.«
    »Einen anderen Mann, Tabitha?« fragte
meine Großmutter, die sich immer noch an ihrer Brosche festhielt.
    »Ach, doch nicht den Mann! Ich bitte
dich!« entgegnete meine Mutter und lachte wieder – und ihr Lachen ließ Lydia
ganz vorsichtig wieder etwas näher an den Tisch heranrollen.
    »Einen Mann, den du magst, Tabitha?«
wollte Großmutter wissen.
    [65]  »Ich hätte es euch gar nicht
erst erzählt, wenn ich ihn nicht mögen würde«, gab meine Mutter zurück. »Ich
möchte, daß ihr ihn kennenlernt«, sagte sie, an uns alle gewandt.
    »Du bist also schon mit ihm ausgegangen?« hakte meine Großmutter
nach.
    »Nein! Ich hab ihn erst kennengelernt – erst heute, im Zug!« antwortete meine Mutter.
    »Und du magst ihn jetzt schon?« fragte
Lydia in einem Tonfall, der dem meiner Großmutter so täuschend ähnlich war, daß
ich aufschauen mußte, um zu sehen, wer von beiden gerade gesprochen hatte.
    »Ja doch«, erwiderte meine Mutter ernst. »So was weiß man. Dafür
braucht man nicht allzulange.«
    »Und wie oft hast du so was schon gewußt – davor?« wollte meine Großmutter wissen.
    »Das hier ist eigentlich das erstemal«, meinte meine Mutter.
»Deshalb weiß ich es auch.«
    Lydia und meine Großmutter schauten instinktiv zu mir herüber,
möglicherweise wollten sie sich vergewissern, ob ich meine Mutter auch richtig
verstanden hatte: Bei dem Mal »davor«, als sie ihr »Techtelmechtel« gehabt
hatte, dessen Resultat ich war, hatte sie also meinem Erzeuger, wer immer das
auch sein mochte, keine besonderen Gefühle
entgegengebracht. Doch ich dachte etwas anderes. Ich dachte, vielleicht war das mein Vater, vielleicht war das der erste Mann, den
sie im Zug getroffen hat, und er hat jetzt von mir gehört und ist neugierig auf
mich geworden und will mich sehen – und etwas ganz Wichtiges hat ihn in den
letzten sechs Jahren von uns ferngehalten. Schließlich war Krieg gewesen, als
ich geboren wurde, 1942. Doch, um ein weiteres Beispiel zu geben, wie unrecht
Tante Martha hatte: Meine Mutter schien gleich zu spüren, was ich dachte, denn
sie sagte: »Bitte versteh mich richtig, Johnny, dieser Mann hat überhaupt
nichts mit deinem Vater zu tun – diesen Mann habe ich heute zum erstenmal
gesehen, und ich [66]  mag ihn. Das ist alles:
Ich mag ihn einfach, und ich glaube, du wirst ihn auch mögen.«
    »Na gut«, sagte ich, doch ich konnte sie nicht anschauen. Ich
erinnere mich daran, daß ich auf Lydias Hände starrte, die den Rollstuhl
umklammerten, und auf die Hände meiner Großmutter, die mit der Brosche
herumspielten.
    »Und was macht er, Tabitha?« wollte meine
Großmutter wissen. Das war eine typische Wheelwright-Frage. Dem Weltbild meiner
Großmutter zufolge hing das, was man »machte«, damit zusammen, »woher« eine
Familie kam –, und sie hoffte immer, aus England, und möglichst aus dem 17. Jahrhundert. Und die kurze Liste an Dingen, die man »machen« konnte, um meine
Großmutter zufriedenzustellen, war nicht weniger genau als die erste Forderung.
    »Theater«, sagte meine Mutter. »Er ist so was ähnliches wie ein
Schauspieler –, aber das stimmt auch nicht ganz.«
    »Ein arbeitsloser Schauspieler?« hakte meine Großmutter nach. (Heute
glaube ich, ein Schauspieler mit festem Engagement wäre schlimm genug gewesen.)
    »Nein, er will gar kein festes Engagement haben – er ist ganz bewußt
ein Amateur «, entgegnete Mutter. Und ich dachte an
die Leute in Bahnhöfen, die mit Marionetten spielen – ich dachte an
Straßenkünstler, obwohl mir im Alter von sechs Jahren der Wortschatz fehlte, um
das auszudrücken. »Er unterrichtet Schauspielen, und
wie man Bühnenstücke inszeniert«, erklärte meine Mutter.
    »Also ein Regisseur?« fragte meine Großmutter hoffnungsvoll.
    »Nicht direkt«, sagte meine Mutter und runzelte die Stirn. »Er war
auf dem Weg nach Gravesend zu einem Vorstellungsgespräch.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es hier viele Möglichkeiten
gibt, Theater zu spielen!« meinte Großmutter.
    »Er hat ein

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