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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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elf, als sie starb. Also hat sie vielleicht doch
geflirtet – ein wenig. Ich habe mir immer vorgestellt, daß sie ihr Flirten auf
den Zug nach Boston beschränkte, daß sie an allen anderen Orten dieser Erde
hundertprozentig und vollkommen meine Mutter war – selbst in Boston, dieser gefürchteten
Stadt – aber daß sie im Zug vielleicht nach Männern Ausschau hielt. Was könnte
sonst erklären, daß sie den Mann, der mich zeugte, dort traf? Und etwa sechs
Jahre später – wieder im Boston & Maine – traf
sie den Mann, der sie dann heiratete! Ließ sie der Rhythmus der Räder, die auf
den Schienen dahinratterten, sich irgendwie von sich selbst lösen und sich ganz
untypisch verhalten? Veränderte sie sich auf einer Reise, wenn ihre Füße nicht
den Erdboden berührten?
    Ich tat diese absurde Angst nur einmal kund, und nur Owen gegenüber.
Der war schockiert.
    »WIE KANNST DU SO WAS VON DEINER MUTTER DENKEN?« fragte
er mich.
    »Aber du sagst doch selbst dauernd, daß sie sexy ist, du spinnst doch ständig von ihren Brüsten rum«, entgegnete
ich.
    »ICH SPINNE NICHT RUM«, gab er
beleidigt zurück.
    »Na gut – ich meine, du magst sie eben«, lenkte ich ein. »Männer und
Jungs – alle mögen sie.«
    »DAS MIT DEM ZUG KANNST DU VERGESSEN«, meinte Owen. »DEINE MUTTER
IST NICHT SO EINE. IM ZUG PASSIERT IHR GAR NICHTS.«
    Nun, obwohl sie sagte, sie habe meinen Vater im Boston & Maine »getroffen«, so habe ich mir doch nie vorgestellt,
daß meine [63]  Zeugung auch dort stattfand; es
ist allerdings eine Tatsache, daß sie in diesem Zug den Mann kennenlernte, den
sie dann heiratete. Diese Geschichte war weder eine Lüge noch ein Geheimnis.
Wie oft habe ich sie gebeten, mir diese Geschichte zu erzählen! Und nie zögerte
sie, nie wurde sie es leid, diese Geschichte zu erzählen – und sie erzählte sie
immer gleich, jedes Mal. Und nachdem sie tot war, wie oft habe ich ihn gebeten, mir diese Geschichte zu erzählen – und auch
er wurde es nie leid, sie zu erzählen, und er erzählte sie immer gleich, jedes
Mal.
    Sein Name war Dan Needham. Wie oft habe ich zu Gott gebetet, daß er mein richtiger Vater wäre!
    Meine Mutter, meine Großmutter und ich – und Lydia, minus eines
ihrer Beine – saßen an einem Donnerstag im Frühling 1948 beim Abendessen.
Donnerstags kam meine Mutter immer aus Boston zurück, und an diesen Abenden gab
es immer etwas Besseres als sonst zum Essen. Ich erinnere mich daran, daß es
kurz nach Lydias Operation war, denn es war immer noch ein wenig ungewohnt, daß
sie mit uns am Tisch saß (im Rollstuhl), und daß die beiden neuen Hausmädchen
nun das Auftragen und Abräumen besorgten, was vor kurzem noch Lydia getan
hatte. Und der Rollstuhl war für Lydia noch so neu, daß sie mir nicht erlaubte,
sie darin herumzuschieben; das gestattete sie nur meiner Großmutter und meiner
Mutter und einem der beiden neuen Hausmädchen. Ich kann mich nicht mehr an all
die komplizierten Einzelheiten dieser Rollstuhlregeln erinnern – nur daran, daß
wir vier fast mit dem Essen fertig waren, und daß Lydias Anwesenheit am Tisch
ins Auge stach wie etwas frisch Gestrichenes.
    Und meine Mutter sagte: »Ich habe im Boston &
Maine wieder einen Mann getroffen.«
    Ich glaube, diese Bemerkung war nicht nur schelmisch gemeint, doch
sie löste bei Lydia, meiner Großmutter und mir sofort erstaunliche Reaktionen
aus. Lydias Rollstuhl rollte rückwärts vom [64]  Tisch
weg, und sie zog dabei das Tischtuch mit sich, so daß Teller, Gläser und
Besteck einen kleinen Satz machten und die Kerzen wackelten. Meine Großmutter
griff nach der großen Brosche über ihrem Busen – als drohe sie daran zu
ersticken –, und mir geriet ein großes Stück von meiner Unterlippe zwischen die
Zähne, so daß ich mein Blut schmeckte.
    Wir vermuteten alle mehr hinter Mutters Andeutung. Ich war nicht
dabei gewesen, als sie die Einzelheiten ihrer Begegnung mit dem ersten Mann erläuterte, von dem sie behauptete, sie habe
ihn im Zug »getroffen«. Vielleicht hatte sie gesagt: »Ich habe einen Mann im Boston & Maine getroffen – und jetzt bin ich
schwanger!« Vielleicht hatte sie gesagt: »Ich werde ein Kind bekommen, weil ich
ein Techtelmechtel mit einem Fremden hatte, den ich im Boston
& Maine getroffen habe – mit einem, den ich wohl nie mehr
wiedersehen werde!«
    Nun gut, wenn ich auch die erste Ankündigung nicht als Ohrenzeuge
wiedergeben kann, so war die zweite Ankündigung doch ebenfalls recht
spektakulär. Wir dachten alle,

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