Owen Meany
Vorstellungsgespräch in der Academy«, erläuterte [67] meine Mutter. »Als Lehrer – Geschichte des
Theaters, oder so ähnlich. Und die Jungen führen doch immer Stücke auf – weißt
du noch, Martha und ich sind oft hingegangen. Es war so witzig, wie sie sich
als Mädchen verkleiden mußten!«
Soweit ich mich erinnern kann, war das der witzigste Teil der
Aufführungen; ich hatte keine Ahnung, daß sich jemand hauptberuflich damit
beschäftigen konnte, solche Aufführungen zu leiten.
»Also ist er Lehrer?« Meine Großmutter ließ nicht locker. Das lag
gerade noch an der Grenze dessen, was Harriet Wheelwright akzeptieren konnte –,
obwohl meine Großmutter genug Geschäftssinn hatte, um zu wissen, daß das Gehalt
eines Lehrers (selbst an einer so hochkarätigen Privatschule wie der Gravesend
Academy) nicht eben ihrem Standard entsprach.
»Ja!« sagte meine Mutter erschöpft. »Er ist Lehrer. Er hat Theaterwissenschaft an einer
Privatschule in Boston unterrichtet. Davor war er in Harvard – hat ’45 seinen
Abschluß gemacht.«
»Grundgütiger Himmel!« entfuhr es meiner Großmutter. »Warum hast du
nicht mit Harvard angefangen?«
»Für ihn ist es nicht so wichtig«, gab meine Mutter zurück.
Doch die Tatsache, daß er einen Abschluß von Harvard hatte, war für
meine Großmutter so wichtig, daß sich ihre Hände beruhigten; sie ließen die
Brosche los, fielen in den Schoß und ruhten sich dort aus. Nach einer höflichen
Pause rückte Lydia mit dem Rollstuhl ein paar Zentimeter vorwärts, griff nach
der kleinen silbernen Tischglocke und läutete, damit die Mädchen den Tisch
abräumten – die gleiche Glocke, mit der sie selbst so oft gerufen worden war
(noch gestern, wie mir schien). Und dieses Klingeln erlöste uns alle von der
lähmenden Spannung, die uns befallen hatte – doch nur für einen Augenblick.
Meine Großmutter hatte vergessen zu fragen: Wie heißt der Mann? Denn ihrer
Meinung nach konnten wir Wheelwrights uns nicht zufriedengeben, solange wir den
Namen des potentiellen neuen Familienmitgliedes [68] nicht
kannten. Gott behüte, wenn er ein Cohen oder ein Calamari oder ein Meany war!
Und schon zuckten die Hände meiner Großmutter wieder hoch zur Brosche.
»Er heißt Daniel Needham«, sagte meine Mutter. Puh! Mit welcher
Erleichterung die Hände wieder in den Schoß fielen! Needham war ein schöner
alter Name, ein Name, wie er von einem der Gründerväter hätte sein können, ein
Name, den man zur Massachusetts Bay Colony zurückverfolgen konnte – wenn auch
nicht ganz bis nach Gravesend selbst. Und Daniel – so hatte schließlich auch
der berühmte Staatsmann und Redner geheißen, Daniel Webster; ein Name, wie man
ihn sich als Wheelwright nur wünschen konnte.
»Aber er wird Dan genannt«, fügte meine Mutter an, worauf sich die
Stirn meiner Großmutter ein wenig in Falten legte. Ihr hatte es nie gepaßt, daß
man aus Tabitha eine Tabby machte, und wenn sie einen Daniel gehabt hätte, so
hätte sie ihn nie zu Dan degradiert. Doch Harriet Wheelwright war tolerant
genug, und auch schlau genug, im Falle einer geringfügigen
Meinungsverschiedenheit einmal nachzugeben.
»Also, habt ihr euch verabredet?« fragte sie.
»Nicht direkt«, antwortete meine Mutter. »Aber ich weiß, daß ich ihn
wiedersehen werde.«
»Aber hast du denn gar keine Pläne gemacht?« bohrte meine Großmutter
nach. Sie konnte es nicht leiden, wenn etwas unbestimmt war. »Wenn er die
Stelle an der Academy nicht bekommt«, sagte sie, »dann wirst du ihn vielleicht
nie wiedersehen!«
»Aber ich weiß, daß ich ihn wiedersehen
werde!« gab meine Mutter zurück.
»Du bist manchmal derart besserwisserisch, Tabitha Wheelwright!«
tadelte meine Großmutter sie. »Ich weiß nicht, warum ihr jungen Leute euch so
dagegen sträubt, vorauszuplanen.« Und dazu, wie überhaupt zu fast allem, was
Großmutter sagte, nickte Lydia weise mit dem Kopf – der Grund für ihre
Schweigsamkeit [69] lag darin, daß meine
Großmutter genau das sagte, was auch Lydia gesagt hätte, nur sagte sie es eben ein
paar Sekunden früher.
Dann klingelte es an der Tür.
Lydia und meine Großmutter starrten mich an, als seien nur meine Freunde so ungehobelt, nach dem Abendessen
aufzukreuzen, ohne eingeladen zu sein.
»Du lieber Himmel, wer mag das denn sein?« fragte Großmutter, und
sie und Lydia schauten demonstrativ und ein wenig zu lang auf ihre Armbanduhr –, dabei war es noch nicht einmal acht Uhr an einem milden Frühlingsabend;
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