Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
der
Himmel war noch hell.
    »Ich wette, er ist es!« sagte meine Mutter
und stand vom Tisch auf, um zur Tür zu gehen. Sie warf einen schnellen,
zufriedenen Blick in den Spiegel über dem Abstelltisch, auf dem das Fleisch
langsam kalt wurde, und lief in die Diele.
    »Also habt ihr euch doch verabredet?«
fragte meine Großmutter. »Hast du ihn eingeladen?«
    »Nicht direkt!« rief meine Mutter zurück. »Ich hab ihm nur gesagt,
wo ich wohne!«
    »Bei den jungen Leuten heißt es offenbar immer ›nicht direkt‹«,
sagte meine Großmutter, mehr zu Lydia als zu mir.
    »Ganz offenbar«, stimmte Lydia ihr zu.
    Doch ich hatte genug von den beiden; ich hatte ihnen schon jahrelang
zugehört. Ich folgte meiner Mutter an die Tür; meine Großmutter, die Lydia in
ihrem Rollstuhl vor sich herschob, folgte mir. Die Neugier hatte die Oberhand
über uns gewonnen. Wir wußten, daß meine Mutter keine konkreten Pläne hatte,
uns auch nur einen einzigen Hinweis auf den ersten Mann zu geben, den sie
angeblich auf dem Boston & Maine getroffen hatte,
doch den zweiten Mann –, den konnten wir uns selbst ansehen. Dan Needham stand
vor unserer Tür in der Front Street in Gravesend.
    Natürlich war meine Mutter schon früher öfter mit irgend jemandem
»ausgegangen«, aber sie hatte noch von keinem gesagt, sie wolle , daß wir ihn kennenlernten, oder sogar, sie möge ihn oder [70]  sie wisse, sie würde ihn wiedersehen. Und so war
uns allen klar, daß Dan Needham etwas Besonderes war, von Anfang an.
    Vermutlich hätte Tante Martha gesagt, ein Grund, warum meine Mutter
»ein wenig einfältig« sei, liege darin, daß sie auf jüngere Männer attraktiv
wirkte; doch da war meine Mutter einfach nur ihrer Zeit voraus –, denn es
stimmte, daß die Männer, mit denen sie ausging, oft ein wenig jünger waren als
sie selbst. Sie ging sogar mit einigen siebzehn-, achtzehnjährigen Jungs von
der Academy aus, als sie selbst schon über zwanzig war, doch sie ging eben nur
mit ihnen aus. Sie hatte ein uneheliches Kind – und alles, was sie mit diesen
Schuljungen tat, war mit ihnen zu tanzen oder ins Kino, ins Theater oder zu
Sportveranstaltungen zu gehen.
    Zugegeben, ich war schon daran gewöhnt, daß ein paar von diesen
Dusseln vorbeikamen; und nie wußten sie, was sie mit mir anfangen sollten. Sie
hatten zum Beispiel keine Ahnung, wie ein Sechsjähriger ist. Entweder brachten
sie mir Quietsche-Entchen für die Badewanne oder andere Spielsachen für
Kleinkinder mit – oder aber das Modern English Dictionary :
darauf sollte sich jeder Sechsjährige stürzen! Und wenn sie mich dann sahen – wenn sie mit meinem kurzen, kompakten Anblick konfrontiert wurden und
erkannten, daß ich für Quietsche-Entchen zu alt und für das Modern
Englisb Dictionary zu jung war – dann setzten sie sofort alles daran, um
mich mit ihrem Einfühlungsvermögen für einen Zwerg wie mich zu beeindrucken.
Sie wollten im Hinterhof mit mir Fußball spielen und schossen mir dann einen
Ball, den ich niemals hätte abwehren können, mit voller Wucht in mein kleines
Gesicht, oder sie quatschten in Babysprache mit mir und fragten, ob ich ihnen
nicht mein Lieblingsspielzeug zeigen wolle – damit sie beim nächsten Mal etwas
Passenderes mitbringen konnten. Es gab nur selten ein »nächstes Mal«. Einmal
fragte einer von ihnen meine Mutter, ob ich noch in die Hosen mache – er fand
diese Frage wohl angebracht, ehe er mich aufforderte, mich auf seinen Schoß zu
setzen und mit ihm Hoppereiter zu spielen.
    [71]  » DU HÄTTEST NEIN SAGEN SOLLEN «, meinte
Owen, » UND DANN
HÄTTEST DU IHM AUF DEN SCHOSS PISSEN SOLLEN.«
    Eins war allen Verehrern meiner Mutter gemeinsam: alle sahen sie gut
aus. So war ich, auf dieser oberflächlichen Ebene, völlig unvorbereitet auf Dan
Needham, der groß und unbeholfen war, lockige, rote Haare hatte und eine Brille
trug, die für seinen eierförmigen Kopf zu klein war – die runden Gläser
verliehen ihm den wachsamen, ängstlichen Blick einer riesigen Eule. Nachdem er
wieder gegangen war, sagte meine Großmutter, dies sei wohl das erstemal in der
Geschichte der Gravesend Academy, daß man einen Lehrer einstellte, »der jünger
aussieht als seine Schüler«. Außerdem paßten ihm seine Kleider nicht; die Jacke
war zu eng, die Ärmel zu kurz, und die Hose ähnelte einem Sack, der Schritt war
näher an seinen Knien als an den Hüften, die recht weiblich wirkten und der
einzige gepolsterte Teil seines seltsamen Körpers waren.
    Doch ich war zu jung und

Weitere Kostenlose Bücher