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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zu zynisch, um seine Gutherzigkeit sofort
zu erkennen. Noch ehe er meiner Großmutter oder Lydia oder mir vorgestellt
wurde, schaute er mir geradewegs in die Augen und meinte: »Du mußt Johnny sein.
Ich hab so viel von dir gehört, wie man in anderthalb Stunden Zugfahrt nur
hören kann, und ich bin sicher, daß man dir ein wichtiges Paket anvertrauen
kann.« Es war eine braune Einkaufstüte, in der sich eine weitere braune
Papiertüte befand. Meine Güte, dachte ich, das wird was sein: ein aufblasbares
Kamel – das schwimmt und spuckt. Doch Dan Needham sagte: »Es ist nicht für
dich, es ist nicht für jemanden in deinem Alter. Aber ich vertraue es dir an,
damit du es irgendwohin stellst, wo niemand drauftreten kann – und paß gut auf,
daß keine Haustiere in die Nähe kommen, wenn du welche hast. Und mach es auf
gar keinen Fall auf. Sag mir nur Bescheid, ob es sich bewegt.«
    Dann gab er mir das Ding; für das Modern English
Dictionary war es zu leicht, und wenn ich es von Haustieren fernhalten
sollte – [72]  und ihm Bescheid sagen sollte, ob
es sich bewegte –, dann war es sicherlich etwas Lebendiges. Schnell stellte ich
es unter den Tisch im Flur, unter den Telefontisch, und dann stand ich halb im
Flur und halb im Wohnzimmer, wo ich zusehen konnte, wie Dan Needham Platz nahm.
    Im Wohnzimmer meiner Großmutter Platz zu nehmen war eine schwierige
Angelegenheit, denn viele der Sitzgelegenheiten waren nicht dazu gedacht, daß
man sich darauf setzte, sondern waren Antiquitäten, die meine Großmutter aus
Sentimentalität aufbewahrte; es tat ihnen nicht gut, wenn man darauf Platz
nahm. Und so gab es, obwohl das Wohnzimmer recht verschwenderisch mit
Polsterstühlen und Sofas ausgestattet war, doch nur wenig Mobiliar, auf das man
sich wirklich setzen durfte – und so nahm mancher Gast, der bereits in die
Hocke gegangen war, um Platz zu nehmen, plötzlich schlagartig wieder Haltung an,
wenn meine Großmutter ausrief: »Um Himmels willen, doch nicht da! Da können Sie nicht Platz nehmen!« Und der verblüffte
Besucher versuchte es dann mit dem nächsten Möbelstück, das nach Meinung meiner
Großmutter unter der Last ebenfalls zusammenbrechen oder explodieren würde. Und
ich vermute, meine Großmutter hatte bemerkt, daß Dan recht groß war und ein
beträchtliches Hinterteil besaß, und daraus schloß sie, daß für ihn eine noch
geringere als die übliche Anzahl der ohnehin wenigen benutzbaren Sitzgelegenheiten
in Frage kam –, während Lydia, die noch Mühe mit ihrem Rollstuhl hatte, ständig
und überall im Weg stand, weil weder meine Mutter noch meine Großmutter schon
den notwendigen Reflex entwickelt hatte, sie einfach beiseitezuschieben.
    Und so spielte sich im Wohnzimmer eine völlig schwachsinnige und
konfuse Szene ab; Dan steuerte auf eine zerbrechliche Antiquität nach der
anderen zu, meine Mutter und meine Großmutter stießen ständig mit Lydias
Rollstuhl zusammen, und meine Großmutter bellte einen Befehl nach dem anderen
heraus, wer wo Platz [73]  zu nehmen habe. Ich
hielt mich aus dieser Hektik heraus und schielte ständig zu der seltsamen
braunen Tüte hinüber, dachte, sie hätte sich vielleicht bewegt, ein ganz klein
wenig – und stellte mir vor, daß plötzlich ein geheimnisvolles Tier neben der
Tüte auftauchen und den Inhalt der Tüte auffressen oder von ihm aufgefressen
würde. Wir hatten nie ein Haustier gehabt – Großmutter meinte, Menschen, die
sich Haustiere hielten, machten sich über sich selbst lustig, indem sie sich
bewußt auf eine Stufe mit Tieren stellten. Dennoch machte es mich ganz nervös,
diese Tüte zu beobachten und auf die geringste Bewegung zu lauern, und es
machte mich noch nervöser, die verrückte Hektik zu beobachten, mit der sich das
Ritual der Erwachsenen im Wohnzimmer vollzog. Allmählich wandte ich meine
Aufmerksamkeit immer mehr der Tüte zu; ich zog mich immer weiter vom Wohnzimmer
in die Diele zurück und setzte mich schließlich im Schneidersitz auf den Läufer
vor dem Telefontisch. Die Seiten der Tüte schienen geradezu zu atmen, und ich
glaubte, einen Geruch wahrzunehmen, der sich jeder menschlichen Erfahrung
entzog. Dieser seltsame Geruch zog mich immer näher zur Tüte hin, bis ich
schließlich ganz unter den Telefontisch kroch, mein Ohr an die Tüte hielt und
über den oberen Rand der Tüte linste – doch die Tüte in der Tüte versperrte mir
die Sicht.
    Im Wohnzimmer redeten sie über Geschichte – das war jetzt Dan
Needhams Arbeitsbereich: er

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