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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ich«, stimmte Charlie ihr zu.
    »Aber wenn er daran denkt, es zu tun, dann stellt er sich vor, er
würde es mit Männern machen?« fragte Katherine.
    »Ich glaube nicht, daß er auch nur dran denkt«, entgegnete Charlie.
    »Und wieso ist er dann ›homosexuell‹, Charlie?« hakte Katherine
nach.
    Charlie seufzte; durch die Wände von Ferienhäusern kann man sogar
Seufzer hören.
    »Er ist nicht unattraktiv«, meinte Charlie. »Er hat keine Freundin.
Hat er jemals eine gehabt?«
    »Mir leuchtet nicht ganz ein, warum er deshalb schwul sein muß«, gab Katherine zu bedenken. »Auf mich wirkt er
jedenfalls nicht wie ein Schwuler.«
    »Ich hab nicht gesagt, daß er schwul ist«,
entgegnete Charlie. »Ein nicht praktizierender Homosexueller weiß nicht immer, was er ist.«
    Das bedeutet es also, ein »nicht praktizierender Homosexueller« zu
sein, dachte ich: es bedeutet, daß ich nicht weiß, was ich bin!
    [587]  Jeden Tag gibt es eine
Diskussion um das Essen – und darüber, wer das Boot, beziehungsweise eines der
Boote, nimmt und hinüberfährt, um die Zutaten zum Kochen und die anderen
unerläßlichen Dinge zu besorgen. Die Einkaufsliste beschränkt sich auf das
Wesentliche.
    Benzin
    Batterien
    Heftpflaster
    Getreide (falls vorhanden)
    Insektenspray
    Hackfleisch und Brötchen (viel!)
    Eier
    Milch
    Mehl
    Butter
    Bier (jede Menge!)
    Obst (falls vorhanden)
    Frühstücksspeck
    Tomaten
    Wäscheklammern (für Prue)
    Zitronen
    Köder (lebend) zum Angeln
    Ich lasse mir von den jüngeren Kindern zeigen, wie sie gelernt
haben, Boot zu fahren. Ich lasse mich von Charlie Keeling zum Angeln mitnehmen;
das macht mir wirklich Spaß – einmal im Jahr. Ich mache mich nützlich, wo immer
auf der Insel es erforderlich ist: die Ormsbys müssen ihre Veranda herrichten;
die Gibsons ersetzen die kaputten Schindeln am Dach des Bootshauses.
    Ich melde mich jeden Tag freiwillig zum Einkaufen; die Einkäufe für
eine große Familie zu erledigen, macht mir Spaß – zumindest für so kurze Zeit.
Ich nehme ein Kind mit, oder zwei – [588]  weil
die so gerne mit dem Boot fahren. Und mein Zimmer teile ich immer mit einem der
Keeling-Kinder – oder besser, von einem der Kinder wird verlangt, daß es sein Zimmer mit mir teilt. Beim Einschlafen lausche ich
den erstaunlich vielfältigen Atemvarianten eines schlafenden Kindes – den
Schreien eines Seetauchers draußen über dem dunklen Wasser, den Wellen, die
sich an den Felsen am Ufer brechen. Und am Morgen, lange bevor das Kind sich
rührt, höre ich die Möwen und habe vor Augen, wie der tomatenrote
Kleintransporter die Küstenstraße zwischen Hampton Beach und Rye Harbor
entlangfährt; ich höre das rauhe, kampfbereite Krächzen von Krähen, deren
schrille Kontroversen und Tiraden mir bewußt machen, daß ich in der wirklichen Welt aufgewacht bin – in der Welt, die ich
kenne.
    Einen Augenblick lang, ehe die Krähen mit ihrem heiseren Gezänk
anfangen, kann ich mir vorstellen, hier in der Georgian Bay das gefunden zu
haben, was man einst als ›Neue Welt‹ bezeichnete – soeben die Küste des
unberührten Landes neu entdeckt zu haben, das Watahantowet einem meiner
Vorfahren verkauft hat. Denn in der Georgian Bay kann man sich Nordamerika noch
vorstellen, wie es einmal gewesen ist – ehe die Vereinigten Staaten es durch
Betrügerei und Unbedachtsamkeit so gut wie kaputtgemacht haben!
    Dann höre ich die Krähen. Sie holen mich mit ihrem chaotischen
Gekrächze zurück in die Wirklichkeit. Ich versuche, nicht an Owen zu denken.
Ich bemühe mich, mit Charlie Keeling über Fischotter zu reden.
    »Sie haben einen langen, platten Schwanz, der flach auf dem Wasser
liegt«, erklärte mir Charlie.
    »Ah ja«, sagte ich. Wir saßen auf den Felsen am Ufer, nicht weit von
der Stelle, wo eines der Kinder eine Bisamratte gesehen haben wollte.
    »Das war ein Otter«, erklärte Charlie dem Kind.
    [589]  »Du hast es doch gar nicht
gesehen, Dad«, meinte ein anderes Kind.
    Daraufhin beschlossen Charlie und ich zu warten, bis das Tier wieder
herauskam. Verstreute Schalen von Süßwassermuscheln ließen erkennen, wo
zwischen den Uferfelsen der Eingang zur Höhle des Tieres lag.
    »Otter sind wesentlich schnellere Schwimmer als Bisamratten«,
erklärte mir Charlie.
    »Ah ja«, sagte ich. Wir saßen eine Stunde oder zwei da, und Charlie
erklärte mir, wie sich der Wasserstand in der Georgian Bay und im ganzen
Huron-See veränderte; jedes Jahr ist er anders. Er meinte, er mache sich
Sorgen, daß der – aus

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