Owen Meany
wissen
glaubte; und wir reden über Hester. Noch in unseren Gräbern werden wir über
Hester reden!
»Hester the Molester!« sagt Simon.
»Wer hätte gedacht, daß so was möglich ist?« sinniert Noah.
Und an jedem Weihnachtsfest sagt Onkel Alfred oder Tante Martha:
»Ich bin sicher, daß Hester nächstes Jahr zu
Weihnachten nach Hause kommt – sie hat es jedenfalls gesagt.«
[582] Und Noah oder Simon wirft ein:
»Das sagt sie immer.«
Ich vermute, Hester ist der einzige Punkt im Leben meines Onkels und
meiner Tante, über den sie nicht glücklich sind. Selbst im Sommer 1962 spürte
ich, daß das so war. Sie behandelten sie anders als Noah und Simon, und Hester
zahlte es ihnen heim; ihre Eltern machten sie so wütend! Sie nahm diese Wut aus
Sawyer Depot überallhin mit und fand, wo auch immer sie hinging, weitere Dinge
und Menschen, die ihre kolossale Wut noch steigerten.
Ich glaube nicht, daß Owen wütend war, das nicht. Doch die beiden
verband ihr Gefühl für Unfairness; eine Aura des Ungerecht-behandelt-Werdens
umgab sie beide. Owen spürte, daß Gott ihm eine Rolle zugewiesen hatte, die er
aus eigener Kraft nicht ändern konnte; Owens Wissen um sein Schicksal – sein
Glaube, daß er eine Mission hatte – raubte ihm die Fähigkeit, Freude zu empfinden. Im Sommer 1962 war er erst zwanzig;
doch von dem Augenblick an, als er erfuhr, daß John F. Kennedy es mit Marilyn
Monroe »trieb«, tat er nie mehr etwas nur der Freude halber. Hester war einfach
nur von allem angekotzt; ihr war alles scheißegal. Welch ein deprimierendes
Gespann die beiden waren!
Onkel Alfred und Tante Martha hingegen hielt ich im Sommer 1962 für
ein perfektes Gespann; dennoch deprimierten mich die
beiden, weil sie so glücklich waren. In ihrem Glück erinnerten sie mich an das
kurze Glück meiner Mutter mit Dan – und daran, wie groß auch dieses Glück
gewesen war.
Ich schaffte es in jenem Sommer nicht ein einziges Mal, bei einem
Mädchen zu landen. Noah und Simon taten für mich, was sie konnten. Sie stellten
mich jedem Mädchen am Loveless Lake vor. Es war ein Sommer der nassen
Badesachen, die an der Antenne von Noahs Auto trockneten – und meine
aufregendsten sexuellen Erfahrungen waren der Anblick des Schritts
verschiedener Mädchenbadeanzüge, die über Noahs Auto im Wind [583] flatterten. Es war ein schwarzweißer Chevy,
Baujahr ’57, ein Kabrio mit Heckflossen. Noah ließ mich damit ins Autokino
fahren, wenn ich mich erfolgreich mit einem Mädchen verabredet hatte.
»Wie war der Film?« fragte Noah mich jedesmal – wenn ich das Auto,
immer viel zu früh, wieder zurückbrachte.
»Er sieht aus, als hätte er jede Minute davon gesehen«, meinte Simon
dann – und das stimmte. Ich habe jede Minute von jedem Film gesehen, in den ich
mit einem Mädchen gegangen bin. Und schlimmer noch: Noah und Simon gaben mir
zahllose Gelegenheiten, mit verschiedenen Mädchen im Bootshaus der Eastmans
allein zu sein. Das Bootshaus hatte den Ruf einer billigen abendlichen
Absteige; doch alles, wozu ich es je brachte, war ein endlos langes Dartspiel,
und manchmal saß ich mit meinem Mädchen auf der Mole und enthielt mich jeden
Kommentars über das Schauspiel, das uns die weit entfernt leuchtenden Sterne
boten, bis (endlich) Noah oder Simon ankamen und uns aus unserer peinlichen
Situation erlösten.
Ich begann mich zu fürchten – doch ich verstand nicht, weshalb.
Georgian Bay, 25. Juli 1987. Zu meinem Unglück bekommt man in
Pointe au Baril Station The Glohe and Mail und den Toronto Star, aber Gott sei Dank führen sie nicht auch
noch die New York Times ! Die Insel in der Georgian
Bay, die seit 1933 Katherines Familie gehört – als ihr Großvater sie angeblich
beim Pokern gewann –, liegt etwa fünfzehn Minuten mit dem Boot von Pointe au
Baril entfernt; zwei weitere Inseln und Peesay Point liegen in der Nähe. Sie
heißt, glaube ich, Gibson Island oder Ormsby Island – in Katherines Familie
gibt es sowohl Gibsons als auch Ormsbys. Ich glaube, Gibson war Katherines
Mädchenname, aber ich bin nicht ganz sicher.
Jedenfalls stehen auf der Insel ein paar Zedernholzblockhütten;
elektrischen Strom gibt es nicht, aber die Versorgung mit Propangas ist
zuverlässig und recht bequem – die Kühlschränke, die [584] Heißwasserboiler,
die Öfen und die Lampen arbeiten sämtlich mit Propangas; die Gastanks werden
per Schiff angeliefert. Die Insel verfügt über ein funktionierendes
Kanalisationsnetz – ein oft diskutiertes Thema
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