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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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den Vereinigten Staaten importierte – saure Regen den See
nach und nach zugrunde richte; das beginne wie immer, erklärte er, bei der
niedrigsten Stufe der Nahrungskette.
    »Ah ja«, sagte ich.
    »Das Seegras ist heute anders, genauso die Algen, man kann nicht
mehr wie früher Hechte fangen – und ein einziger Otter kann nicht all die
Muscheln auf dem Gewissen haben!« meinte er und deutete auf die Muschelschalen.
    »Ah ja«, sagte ich.
    Dann, als Charlie zum Pinkeln in einem Gebüsch verschwand, tauchte
im Wasser ein Tier von der Größe eines kleinen Beagles mit einem
plattgedrückten Kopf und dunkelbraunem Fell auf und entfernte sich eilig vom
Ufer.
    »Charlie!« rief ich. Das Tier tauchte unter; es kam nicht wieder
hoch. Sofort stand eines der Kinder neben mir.
    »Was war es?« fragte mich der Kleine.
    »Ich weiß nicht«, gab ich zur Antwort.
    »Hatte es einen platten Schwanz?« rief Charlie aus dem Gebüsch.
    »Es hatte einen ziemlich plattgedrückten Kopf «,
entgegnete ich.
    »Es war eine Bisamratte«, meinte der Kleine.
    [590]  »Du hast es doch gar nicht
gesehen«, wandte seine Schwester ein.
    »Was für einen Schwanz hat es gehabt?«
rief Charlie herüber.
    »Seinen Schwanz hab ich nicht gesehen«, bekannte ich.
    »Meine Güte, so schnell war es?« fragte
Charlie, als er aus dem Gebüsch trat und den Reißverschluß seiner Hose hochzog.
    »Na ja, es war ganz schön schnell«, erklärte ich.
    »Dann war es ein Otter«, meinte er.
    Beinahe hätte ich gesagt, es sei mir wie ein »nicht praktizierender
Homosexueller« vorgekommen, doch dann verkniff ich es mir.
    »Sehen Sie die Ente dort?« fragte mich das kleine Mädchen.
    »Das ist keine Ente, du dumme Nuß«, meinte der Bruder der Kleinen.
    »Du hast sie ja gar nicht gesehen, sie ist weggetaucht!« beharrte
das Mädchen.
    »Ganz gleich, was es war, es war jedenfalls ein Weibchen«, erklärte
jemand anders.
    »Ach, was weißt du schon?« meldete wieder
ein anderes Kind Zweifel an.
    »Ich hab nichts gesehen«, erklärte ich.
    »Schauen Sie nur da hinüber – noch ein Weilchen«, riet mir Charlie
Keeling. »Zum Luftholen muß sie auftauchen«, erläuterte er. »Es ist
wahrscheinlich eine Spießente oder Stockente oder eine Krickente – wenn es
wirklich ein Weibchen ist.«
    Die Kiefern duften phantastisch, und auch die Flechten auf den
Felsen duften phantastisch, und sogar der Geruch des frischen Wassers ist
phantastisch – oder ist es in Wirklichkeit Verwesungsgeruch, der sich knapp
unter der Oberfläche dieser Wassermassen ausbreitet? Ich weiß nicht, was einen
See so riechen läßt, aber es ist phantastisch. Ich könnte einen von den
Keelings fragen, warum der See so riecht, aber ich
will die Stille nicht stören – diese Stille, die nur von dem fast völlig
gleichmäßigen Rauschen des Windes in [591]  den
Wipfeln der Kiefern, dem Plätschern der Wellen und den Schreien der Möwen und
Seeschwalben unterbrochen wird.
    »Das da ist eine Raubseeschwalbe«, erklärte mir einer der kleinen
Keelings. »Sehen Sie den langen roten Schnabel und die schwarzen Füße?«
    »Ah ja«, sagte ich. Doch ich beachtete die Raubseeschwalbe überhaupt
nicht; ich dachte an den Brief, den ich Owen Meany im Sommer 1962 geschrieben
hatte. Dan Needham hatte mir erzählt, er hätte Owen an einem Sonntag in der
Turnhalle der Gravesend Academy gesehen. Dan sagte, Owen hatte den Basketball
in der Hand, aber den Schuß übte er nicht. Er stand auf der Freiwurflinie und
sah einfach nur zum Korb hoch – er dribbelte nicht einmal mit dem Ball, und den
Schuß wollte er nicht üben. Dan meinte, es wirkte etwas seltsam.
    »Er hat einfachnur dagestanden «, sagte Dan. »Ich hab ihm mindestens fünf Minuten lang
zugesehen, und er hat sich nicht vom Fleck gerührt – hat einfach den Ball in
der Hand gehalten und auf den Korb gestarrt. Er ist ja so klein, daß der Korb
ihm meilenweit entfernt vorkommen muß.«
    »Wahrscheinlich hat er über den Schuß nachgedacht«, meinte ich zu
Dan.
    »Also ich hab ihn jedenfalls nicht gestört«, sagte Dan. »Worüber er
auch nachgedacht hat, er hat sich so stark darauf konzentriert, daß er mich
nicht gesehen hat – ich hab ihn nicht mal gegrüßt. Außerdem hätte er mich
wahrscheinlich eh nicht gehört«, sagte Dan.
    Als ich von ihm hörte, vermißte ich sogar das Üben dieses blöden
Dunking; und so schrieb ich ihm, ganz beiläufig – denn würde ein
Zwanzigjähriger etwa damit herausrücken und sagen, daß
er seinen besten Freund

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