Owen Meany
es
dauerte, bis Simon seine Tetanusspritze bekam und genäht wurde, desto länger
konnten wir den Bremsen, den Stechmücken und der Hitze fernbleiben. Simon gab
sogar vor, nicht zu wissen, ob er irgendwelche Allergien hatte; Tante Martha
und Onkel Alfred mußten angerufen werden, und das dauerte noch mal eine Weile.
Noah begann mit einer der Krankenschwestern zu flirten; mit etwas Glück, das
wußte Noah, konnten wir uns für den Rest des Tages die Zeit vertreiben und
brauchten überhaupt nichts mehr zu arbeiten.
Einer der bei dem Verkehrsunfall weniger schlimm Verletzten saß bei
uns im Wartezimmer. Noah und Simon kannten ihn flüchtig – solche Typen gibt es
im Norden häufig, er war einer dieser Skifanatiker, die nichts mit sich
anzufangen wissen, wenn kein Schnee liegt. Der Typ hatte gerade eine Flasche
Bier getrunken, als die beiden Autos aufeinandergeprallt waren; er hatte am
Steuer eines der Autos gesessen, erzählte er, und der Flaschenhals war beim
Zusammenstoß in seinem Mund abgebrochen – er hatte Schnittwunden im Gaumen,
sein Zahnfleisch war zerfetzt, und das kaputte Ende der Bierflasche hatte ihm
die Wange durchbohrt. Stolz zeigte er uns seine Verletzungen im Mund und das
Loch in der Wange – und wischte dabei Mund und Gesicht ununterbrochen mit einer
blutdurchtränkten Mullbinde ab, die er hin und wieder in ein blutgetränktes
Handtuch auswrang. Er war ein klassischer Vertreter dieser Verrückten hier oben
im Norden, wegen denen Hester Sawyer Depot [595] verabscheute
und das ganze Jahr über bei ihren Kommilitonen in Durham blieb.
»Habt ihr das mit Marilyn Monroe schon gehört?« fragte uns der
Skifanatiker.
Wir waren auf einen schmutzigen Witz gefaßt – einen widerwärtigen,
schmutzigen Witz. Das Lächeln des Skifanatikers war ein blutiger Riß in seinem
Gesicht; sein Lächeln war das abstoßende Pendant zu dem klaffenden Loch in
seiner Wange. Er war lüstern und verdorben – unser höchst willkommener
Urlaubstag in der Ambulanz hatte eine häßliche Wende genommen. Wir versuchten
ihn zu ignorieren.
»Habt ihr das mit Marilyn Monroe schon gehört?« wiederholte er seine
Frage. Plötzlich klang es nicht mehr wie ein Witz. Vielleicht hat es was mit
den Kennedys zu tun! dachte ich.
»Nein. Was ist denn mit ihr?« fragte ich zurück.
»Sie ist tot«, sagte der Skifanatiker. Er verkündete es mit einem
sadistischen Lächeln, das das Blut aus seinem Mund in das Loch in der Wange zu
pumpen schien; ich glaubte, er war über den Sensationswert seiner Nachricht
genauso erfreut wie darüber, daß er sein eigenes Blut von der nassen Mullbinde
in das nasse Handtuch wringen konnte. In Zukunft sollte ich immer sein
blutendes Gesicht vor Augen sehen, wenn ich mir vorstellte, wie Larry Lish und
seine Mutter wohl auf diese Nachricht reagierten; wie eifrig, wie gierig sie
sie weiterverbreiteten! »Habt ihr schon gehört? Habt ihr’s tatsächlich noch
nicht gehört?« Die Freude über all die Mutmaßungen, denen sie sich nun hingeben
konnten, muß ihre Gesichter ebenso gerötet haben wie Blut!
»Wie?« fragte ich den Skifanatiker.
»Eine Überdosis«, sagte er; er schien enttäuscht zu sein – als habe
er auf etwas Blutigeres gehofft. »Vielleicht war’s ein Unfall, vielleicht
Selbstmord«, meinte er.
Vielleicht waren es die Kennedys, dachte ich. Ich spürte Angst in
mir aufkeimen; anfangs, in jenem Sommer, war es etwas nicht [596] näher Definierbares gewesen, das mir angst
gemacht hatte. Jetzt war es etwas Konkretes, das mir angst machte – doch die
Angst selbst war noch immer vage: Was konnte Marilyn Monroes Tod schon mit mir zu tun haben?
»ER HAT MIT UNS ALLEN ZU TUN «, sagte Owen
Meany, als ich ihn an diesem Abend anrief. » SIE WAR WIE
UNSER LAND – NICHT MEHR GANZ JUNG, ABER AUCH NOCH NICHT ALT; ETWAS AUSSER ATEM,
UNGEHEUER SCHÖN, VIELLEICHT EIN BISSCHEN DUMM, VIELLEICHT VIEL SCHLAUER, ALS ES
SCHIEN. UND SIE SUCHTE NACH ETWAS – ICH GLAUBE, SIE WOLLTE GUT SEIN. SCHAU DIR
DIE MÄNNER IN IHREM LEBEN AN – JOE DIMAGGIO, ARTHUR MILLER, VIELLEICHT AUCH DIE
KENNEDYS. ÜBERLEG MAL, WIE GUT DIE ZU SEIN SCHEINEN ! ÜBERLEG MAL, WIE BEGEHRENSWERT SIE WAR! GENAU
DAS WAR SIE: BEGEHRENSWERT. SIE WAR WITZIG UND SEXY – DOCH SIE WAR AUCH
VERLETZLICH. SIE WAR NIE RICHTIG GLÜCKLICH, SIE HATTE IMMER EIN PAAR PFUND
ZUVIEL. SIE WAR GENAUSO WIE UNSER GANZES LAND«, wiederholte er;
jetzt war er in Fahrt. Im Hintergrund hörte ich Hester Gitarre spielen, als
versuche sie, auf seine Worte einen Folksong
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