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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hatte eine Anstellung als Geschichtslehrcr
bekommen. In Harvard hatte er genug Geschichte studiert, um die üblichen
Unterrichtsstunden in diesem Fach an der Gravesend Academy geben zu können.
»Oh, Sie haben die Stelle also bekommen!« sagte meine Mutter. Das besondere an
seiner Qualifikation war, daß er sich auch in der Geschichte des Theaters
auskannte –, und in diesem Zusammenhang stellte er fest, die Theaterkultur
einer Epoche kennzeichne diese genauso wie die in ihr betriebene sogenannte
Politik, doch ich hörte nur halb hin, denn der Inhalt der braunen Tüte in der Diele
fesselte [74]  mich zu sehr. Ich hob sie hoch,
nahm sie auf den Schoß und wartete darauf, daß sie sich bewegte.
    Abgesehen von dem Vorstellungsgespräch mit den anderen
Geschichtslehrern und mit dem Direktor, sagte Dan Needham gerade, habe er auch
darum gebeten, sich kurz den am Theaterspielen interessierten Schülern
vorstellen zu können – und natürlich auch den Kollegen aus dem Lehrkörper, die
daran Interesse zeigten – und hier habe er zu demonstrieren versucht, wie die
Entwicklung bestimmter Techniken der Schauspielkunst und bestimmter
schauspielerischer Fähigkeiten mit dazu beitragen kann, daß die Zuschauer nicht
nur die Charaktere auf der Bühne, sondern auch bestimmte geschichtliche und
geographische Zusammenhänge besser verstehen können. Und für derartige
Demonstrationen vor Schülern, so erzählte Dan Needham, bringe er immer ein
»Objekt« mit – etwas Interessantes, auf das er entweder die Aufmerksamkeit der
Schüler hinlenken oder aber mit dem er sie von dem, was er ihnen zum Schluß
zeigen wollte, ablenken könne. Ich fand, er war ziemlich langatmig.
    »Was für Objekte denn?« wollte meine
Großmutter wissen.
    »Genau, was für Objekte ?« wiederholte
Lydia.
    Und Dan Needham sagte, ein »Objekt« könne alles mögliche sein;
einmal habe er einen Tennisball benutzt – und ein anderes Mal einen lebendigen
Vogel in einem Käfig.
    Das ist’s! dachte ich, denn ich spürte, daß das, was in der Tüte
steckte, hart und leblos war und sich nicht bewegte – ein Vogelkäfig könnte es
sein! Den Vogel darin konnte ich natürlich nicht berühren. Doch ich wollte ihn
sehen, und etwas ängstlich – und so leise wie möglich, damit die Langweiler im
Wohnzimmer das Rascheln der beiden Tüten nicht bemerkten –, öffnete ich die
kleine Tüte in der großen Tüte ein bißchen.
    Das Gesicht, das meines jetzt intensiv anstarrte, war kein
Vogelgesicht, und es gab keinen Käfig, der dieses Tier daran hindern konnte,
mich anzuspringen – und es sah nicht nur so aus, als würde [75]  es in Erwägung ziehen, sich vielleicht auf mich
zu stürzen, sondern als warte es geradezu darauf. Es blickte wild drein; die
Schnauze, so schmal wie die eines Fuchses, war wie ein Gewehrlauf auf mein
Gesicht gerichtet; die wilden, hellen Augen sprühten nur so vor Haß und
Furchtlosigkeit, und die Krallen seiner Vorderpfoten, die sich mir entgegenstreckten,
waren lang und wirkten prähistorisch. Es sah aus wie ein Wiesel in einem Panzer – wie ein Frettchen mit Schuppen.
    Ich schrie auf. Außerdem vergaß ich, daß ich unter dem Telefontisch
saß, sprang auf, stieß den Tisch um und verhedderte mich mit den Füßen in der
Telefonschnur. Ich konnte nicht weg; und als ich aus der Diele ins Wohnzimmer
stürzte, zog ich das Telefon, den Telefontisch und das Ungetüm in der Tüte
unter beträchtlichem Getöse hinter mir her. Und schrie dabei noch lauter.
    »Grundgütiger Himmel!« rief meine Großmutter.
    Doch Dan Needham sagte fröhlich zu meiner Mutter: »Ich hab’s ja
gesagt, er macht die Tüte auf.«
    Zuerst hatte ich gedacht, Dan Needham sei genauso ein Idiot wie all
die anderen, und daß er noch nicht mal das Allerwichtigste über Sechsjährige
wußte – nämlich wenn man einem Sechsjährigen sagt, er soll eine Tüte nicht aufmachen, dann macht er sie ganz bestimmt auf. Doch
er wußte ganz genau über Sechsjährige Bescheid; Dan Needham hatte sogar selbst
immer ein bißchen was von einem Sechsjährigen an sich.
    »Was um Himmels willen ist denn in der Tüte?« fragte meine
Großmutter, als ich mich schließlich von der Telefonschnur befreit hatte und zu
meiner Mutter hinüberkrabbelte.
    »Mein Objekt !« sagte Dan.
    Und es war in der Tat ein »Objekt«; in der Tüte befand sich ein
ausgestopftes Gürteltier. Für einen Jungen aus New Hampshire sieht ein
Gürteltier aus wie ein kleiner Dinosaurier – denn wer in New Hampshire hat
schon von

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