Owen Meany
– NICHT NUR ICH,
SONDERN AUCH DIE NONNEN UND DIE KINDER. ICH BIN ZIEMLICH HOCH ÜBER IHNEN, DOCH
SIE BLICKEN NICHT NACH OBEN; SIE SEHEN HINAB, AUF DAS, WAS ICH EINMAL WAR. UND BALD BIN ICH HOCH ÜBER ALLEM;
DIE PALMEN RAGEN KERZENGERADE IN [658] DEN
HIMMEL. DOCH BALD BIN ICH AUCH HOCH ÜBER DEN PALMEN. DER HIMMEL UND DIE PALMEN
SIND SO SCHÖN, ABER ES IST SEHR HEISS – DIE LUFT HIER IST VIEL HEISSER ALS AN
JEDEM ANDEREN ORT, WO ICH GEWESEN BIN. ICH WEISS, DASS ICH NICHT IN NEW HAMPSHIRE
BIN.«
Ich sagte kein Wort; er brachte das Tagebuch wieder zurück in
Hesters Zimmer, rührte die Tomatensauce um, schaute unter den Deckel des
Wassertopfes, ob das Wasser bald kochte. Dann klopfte er an die Badezimmertür;
es war still im Bad.
»Ich bin gleich fertig«, sagte Hester.
Owen kam wieder in die Küche und setzte sich zu mir an den Tisch.
»Das ist nur ein Traum, Owen«, sagte ich zu ihm. Er faltete die
Hände und sah mich geduldig an. Ich erinnerte mich daran, wie er das
Sicherheitsseil losgemacht hatte, als wir in einem der Baggerseen des
Steinbruchs schwammen. Ich erinnerte mich daran, wie wütend er war – als wir
nicht sofort ins Wasser sprangen, um ihn zu retten.
»IHR HABT MICH ERTRINKEN LASSEN!« hatte
er gesagt. »IHR HABT NICHT EINEN FINGER GERÜHRT! IHR HABT
EINFACH NUR ZUGESEHEN, WIE ICH ERTRUNKEN BIN! ICH BIN BEREITS TOT!« hatte
er zu uns gesagt. »MERKT EUCH: IHR HABT MICH STERBEN LASSEN.«
»Owen«, sagte ich. »Angesichts deiner unguten Gefühle gegenüber den
Katholiken ist es doch nicht verwunderlich, daß du träumst, eine Nonne sei dein
ganz persönlicher Todesengel, oder?«
Er schaute auf seine auf dem Tisch gefalteten Hände; wir konnten
hören, wie Hester den Stöpsel aus der Badewanne zog.
»Es ist nur ein Traum«, wiederholte ich; er zuckte mit den
Schultern. In seinem Lächeln lag genau die gleiche Mischung aus mildem Bedauern
und Verachtung, die ich schon einmal gesehen hatte – als der Flying Yankee über die Brücke am Maiden Hill [659] gedonnert
war, genau in dem Augenblick, als Owen und ich darunter standen, und ich gesagt
hatte: »Was für ein Zufall!«
Hester kam aus dem Bad, in ein blaßgelbes Handtuch gewickelt, die
Kleider über einen Arm gelegt. Ohne uns anzusehen ging sie in ihr Zimmer; sie
schloß die Tür, und wir hörten, wie sie an den Schubladen ihrer Kommode
rüttelte und wie die Kleiderbügel im Schrank gegen ihre Grobheit protestierten.
»Owen«, sagte ich, »du bist sehr clever, aber der Traum ist ein
Stereotyp – der Traum ist dumm. Du gehst zur Armee, es herrscht Krieg in
Vietnam – meinst du, du würdest im Traum amerikanische Kinder retten? Und natürlich stehen dann da auch Palmen – was hättest du denn
sonst erwartet? Iglus?«
Hester kam in frischen Kleidern aus ihrem Zimmer; heftig rubbelte
sie sich die Haare trocken. Ihre Kleider waren fast genau die gleichen wie die,
die sie vorher angehabt hatte – sie trug jetzt ein anderes Paar Jeans und einen
anderen schlechtsitzenden Rollkragenpullover; wenn Hester ihre Kleidung
änderte, dann höchstens von Schwarz nach Marineblau oder umgekehrt.
»Owen«, sagte ich. »Du kannst doch nicht
glauben, daß Gott will, daß du nach Vietnam gehst, nur damit du dich zur
Verfügung hältst, um diese Traumgestalten zu retten!«
Er nickte nicht und zuckte auch nicht mit den Schultern; er saß ganz
still da und sah auf seine auf dem Tisch gefalteten Hände.
»Genau das glaubt er – du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«,
sagte Hester. Dann nahm sie ihr feuchtes blaßgelbes Handtuch und rollte es eng
zusammen, zu einem »Rattenschwanz«, wie wir dazu sagten. Sie schlug das
Handtuch haarscharf an Owen Meanys Gesicht vorbei, doch der rührte sich nicht.
»Genauso ist es doch! Du Arschloch!« brüllte sie ihn an. Wieder schlug sie mit
dem Handtuch – dann rollte sie es auseinander, stürzte sich auf ihn und
wickelte es um seinen Kopf. »Du glaubst, Gott will, daß du nach Vietnam gehst – oder?« schrie sie.
Sie riß ihn vom Stuhl – schlang ihm das Handtuch fest um den [660] Kopf und nahm ihn in den Schwitzkasten, drückte
ihn zu Boden und legte sich quer über seine Brust, während sie mit der freien
Hand auf sein Gesicht einschlug. Er strampelte mit den Füßen und versuchte, ihr
Haar zu fassen zu kriegen, doch Hester war mindestens fünfzehn Kilo schwerer
als er, und es sah aus, als schlage sie so fest zu, wie sie nur konnte. Als ich
Blut in das blaßgelbe Handtuch sickern sah, packte ich Hester um
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