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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nannte, und wenn sie oder ihre Kinder
sagten, sie führen »hoch in den Norden«, dann meinten sie eine verhältnismäßig
kurze Fahrt in eine der Städte, die etwas weiter nördlich von ihnen lag – nach
Bartlett oder nach Jackson, in eines der guten Skigebiete. Und der Loveless
Lake, an den wir im Sommer zum Schwimmen gingen, lag auch »hoch im Norden« – von den Eastmans aus gesehen, die in Sawyer Depot wohnten. Das war die letzte
Haltestelle des Boston & Maine vor North Conway,
wo die meisten Skiläufer aus dem Zug stiegen. In jeden Weihnachts- oder
Osterferien verließen meine Mutter und ich, vollbepackt mit der Skiausrüstung,
den Zug in Sawyer Depot; von dort aus konnten wir bis zum Haus der Eastmans
laufen. Im Sommer (wir fuhren jeden Sommer mindestens einmal dorthin) war der
Weg sogar noch weniger beschwerlich – ohne die Skier.
    Diese Zugfahrten – mindestens zwei Stunden von Gravesend aus – waren
für mich der konkreteste Anhaltspunkt, um mir auszumalen, wie es war, wenn
meine Mutter mit dem Boston & Maine in die andere Richtung fuhr – südwärts, nach Boston, wohin ich so
gut wie nie hinkam. Doch die Passagiere, die nach Norden fuhren, so dachte ich
immer, waren ganz andere Menschen als die, die in die Großstadt wollten – Skiläufer, Wanderer, Schwimmer; das waren keine Männer und Frauen unterwegs zu
einem Stelldichein, die pünktlich zu einer Verabredung kommen wollten. Das
Ritual dieser Zugfahrten in den Norden werde ich nie vergessen, [79]  obgleich ich mich überhaupt nicht an die doch
immerhin gleiche Anzahl von Rückfahrten nach Gravesend erinnere; Rückfahrten,
egal von wo, sind für mich bis auf den heutigen Tage einfach nur Zeiten, in
denen ich vor mich hindöse oder in bleiernen Schlaf falle.
    Doch jedesmal wenn meine Mutter und ich im Zug nach Sawyer Depot
fuhren, überlegten wir uns genau, ob wir uns auf die linke Seite des Zuges setzen
sollten, so daß wir den Mount Chocorua sehen konnten – oder nach rechts, von wo
aus wir Blick auf den Ossipee Lake hatten. Chocorua gab uns den ersten Hinweis,
wieviel Schnee dort liegen würde, wo wir hinwollten, aber es gibt viel mehr
buntes Treiben um einen See als auf einem Berg – und so entschieden wir uns
doch manchmal dafür, »Ossipee zu nehmen«, wie Mutter und ich diese Entscheidung
nannten. Außerdem spielten wir jedesmal ein Spiel, bei dem wir zu erraten
versuchten, wo die einzelnen Leute aussteigen würden, und jedesmal aß ich
zuviele von den Sandwiches, die im Zug serviert wurden, die, bei denen die
Kruste abgeschnitten ist; und das lieferte mir jedesmal den Grund für den
unvermeidlichen Gang zu diesem finsteren Loch, wo unter mir die Schwellen
vorbeirasten und ein schneidend kalter Luftzug zu meinem nackten Hintern
heraufwehte.
    Meine Mutter sagte dann immer: »Wir sind doch gleich in Sawyer
Depot, Johnny. Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du wartest, bis wir bei
Tante Martha sind?«
    Ja – und nein. Ich hätte fast immer solange warten können; aber es
war nicht nur wichtig, vor der ersten Begegnung mit meinen Vettern und meiner
Kusine Blase und Gedärme zu leeren – ich brauchte die Mutprobe, nackt über
diesem gefährlichen Loch zu hocken und mir vorzustellen, daß Kohlebrocken und
große Nägel von den Schienen mit schmerzverheißender Geschwindigkeit zu mir
hochflogen. Und Blase und Gedärme mußten leer sein, weil mir in Sawyer Depot
sofort eine rauhe Behandlung bevorstand: Meine Vettern und meine Kusine
begrüßten mich sogleich mit akrobatischen Kunststücken, wenn nicht sogar
ausgesprochen [80]  gewalttätig, und dafür mußte
ich mich stärken, mußte mir selbst ein wenig Furcht einjagen, um gegen die
ganzen Schrecken, die diese Ferien mir bringen würden, gewappnet zu sein.
    Es läge mir fern, meine Vettern und meine Kusine als Grobiane zu
bezeichnen; sie waren gutherzige, wilde Rangen, die aufrichtig wollten, daß ich
meinen Spaß hatte – doch unter Spaß verstand man hier
oben im Norden des Landes etwas anderes, als ich es von den Frauen in der Front
Street gewohnt war.
    Ich vollführte keine Ringkämpfe mit meiner Großmutter und boxte auch
nicht mit Lydia, nicht einmal, als sie noch beide Beine hatte. Ich spielte zwar
Crocket mit meiner Mutter, aber bei Crocket kommt man nicht miteinander in
Berührung. Und da Owen Meany mein bester Freund war, lag mir auch nicht viel an
kräftigem Herumprügeln.
    Meine Mutter liebte ihre Schwester und ihren Schwager; die beiden
gaben ihr immer das Gefühl, ein ganz

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