Owen Meany
daß Dan diese Dinge nicht zu wissen brauchte. Und weshalb hätte
meine Mutter schon so großen Wert darauf legen sollen, daß wir von den
Kongregationalisten zu den Episkopalen überwechselten, wenn nicht, um von Mr.
Merrill wegzukommen? Mein Vater war kein mutiger und ehrenwerter Mann; doch
einmal hatte er sich bemüht, es zu sein. Er hatte Angst gehabt, aber er hatte
es – auf seine Art – gewagt, für Owen Meany zu beten; und er hatte es nicht
schlecht gemacht.
Was mochte er sich nur davon erwartet haben, daß er sich mir
eröffnete? Seine eigenen Kinder hatten, traurigerweise, nicht viel von ihrem
Vater mitbekommen – nichts außer seinen unermeßlichen und unsäglichen
Gewissensbissen, an die er sich klammerte wie jemand, der vergessen hat, wie
man betet. Ich könnte ihm wieder beibringen, wie man
betet, dachte ich. Nach dem Gespräch mit Dan kam mir eine Idee, wie ich Pastor
Merrill vielleicht wieder zum Glauben zurückführen konnte – mir wurde klar, wie
ich ihn dazu ermutigen konnte, wieder ein wenig Glauben zu haben. Ich [764] dachte an das unförmige mittlere seiner Kinder,
das man mit den brutal kurz geschorenen Haaren kaum als Mädchen erkennen
konnte; ich dachte an den schlaksigen älteren Jungen, diesen Lümmel und
Friedhofsvandalen! Und sein jüngster Sprößling, der immer unter den
Kirchenbänken herumkrabbelte – ich konnte mich nicht einmal an sein Geschlecht
erinnern.
Wenn Mr. Merrill nicht an Owen Meany glaubte, wenn er glaubte, Gott
bestrafe ihn mit Schweigen – ich wußte, daß ich in der Lage war, ihm etwas zu
geben, woran er glauben konnte. Wenn weder Gott noch Owen Meany Rev. Mr.
Merrills Glauben wieder herstellen konnten, so meinte ich doch ein »Wunder« zu
kennen, an das mein Vater eher glauben würde.
Etwa um zehn Uhr abends hatte ich Pastor Merrill an seinem
Schreibtisch im Pfarrbüro alleine gelassen; nur eine halbe Stunde später
beendete ich das Gespräch mit Dan und kam erneut an der Hurd’s Church vorbei.
Lewis Merrill war noch da, im Pfarrbüro brannte noch Licht; und jetzt drang
auch Licht aus den Buntglasfenstern des Chors der Kirche – aus diesem
abgeteilten und geheiligten Raum um den Altar, wo (zweifellos) mein Vater seine
letzten Worte für Owen Meany zusammenstellte.
»Ich glaube, daß er bei allem, was er aufgehoben hat, an einen
bestimmten Zweck gedacht hat!« hatte Mr. Meany gesagt – als ich die
Schneiderpuppe meiner Mutter mit dem roten Kleid nicht haben wollte. Ich bin
sicher, der arme Trottel wußte nicht, wie recht er damit hatte.
Die Maiden Hill Road lag im Dunkel; es standen noch ein paar von
diesen orangen Warnkegeln und einige unbeleuchtete Warnlampen neben der Straße
an der Brücke, deren Befestigungsmauer Buzzy Thurstons Tod gewesen war. Der
Unfall hatte hier ein ziemliches Durcheinander angerichtet, und man mußte die
Straße an der Stelle, wo Buzzys zusammengestauchter Plymouth den Belag
aufgerissen hatte, neu asphaltieren.
[765] Die Meanys hatten wie immer in
der Küche ein Licht brennen lassen; es war das Licht, das sie aus Gewohnheit
für Owen anließen. Mr. Meany brauchte eine ganze Weile, bis er auf mein Klopfen
hin öffnete. Ich hatte ihn noch nie im Pyjama gesehen; er wirkte merkwürdig
kindisch – wie ein großer Clown in Kinderkleidern. »Sieh mal an, da haben wir
ja den Johnny Wheelwright!« sagte er automatisch.
»Ich möchte die Schneiderpuppe«, sagte ich zu ihm.
»Ja, klar!« meinte er fröhlich. »Das hab ich mir schon gedacht.«
Sie war nicht schwer, aber es war dennoch nicht einfach, sie in
meinem VW -Käfer zu verstauen – sie war so
sperrig. Ich erinnerte mich, wie schwierig es gewesen war, den dick in Windeln
eingewickelten Owen Meany in der Fahrerkabine des Granitlasters unterzubringen,
an jenem Tag, als seine Eltern ihn von dem Krippenspiel nach Hause fuhren; und
wie Mr. Meany Hester, Owen und mich – und die Schneiderpuppe – auf der
Ladefläche des großen Lastwagens an den Strand nach Little Boar’s Head gefahren
hatte.
»Du kannst den Lieferwagen haben, wenn das einfacher ist«, bot mir
Mr. Meany an. Doch das war nicht nötig; mit Mr. Meanys Hilfe schaffte ich es,
die Schneiderpuppe in meinem Käfer zu verstauen. Ich mußte die nackten weißen
Arme, die einst zu Maria Magdalena gehört hatten, aus den Drahtgeflecht-Gelenkpfannen
an den Schultern der Puppe lösen. Die Puppe besaß keine Füße; sie war mit einem
Stab auf einem schmalen, flachen Sockel befestigt – und den steckte ich
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