Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
auf der
Beifahrerseite zum Fenster hinaus; den Beifahrersitz kippte ich dazu nach vorne,
so daß die jungenhaften Hüften, die schlanke Taille, der wohlgeformte Busen und
die schmalen, eckigen Schultern der Puppe nach hinten auf den Rücksitz ragen
konnten. Wenn sie nicht kopflos gewesen wäre, hätte sie nicht hineingepaßt.
    »Vielen Dank«, sagte ich zu Mr.   Meany.
    »Schon gut«, meinte er.
    [766]  Ich parkte den Volkswagen in der
Tan Lane, ein gutes Stück von der Hurd’s Church und dem gelben Blinklicht an
der Kreuzung mit der Front Street. Ich stopfte den Baseball in die Tasche,
klemmte die Schneiderpuppe unter den einen Arm und die langen, blassen
Gliedmaßen von Maria Magdalena unter den anderen. In den Blumenbeeten, auf die
durch die Buntglasfenster des Altarraums etwas gedämpftes Licht fiel, setzte
ich meine Mutter wieder zusammen. Im Pfarrbüro brannte noch Licht, doch Pastor
Merrill probte im Altarraum der alten steinernen Kirche seine Gebete für Owen;
von Zeit zu Zeit spielte er ein wenig auf der Orgel herum. Aus den Tagen, als
er bei den Kongregationalisten den Kirchenchor geleitet hatte, verfügte er noch
über gewisse Fähigkeiten im Orgelspiel. Die Lieder, mit denen er herumspielte,
um sich auf die Gebete für Owen Meany einzustimmen, waren mir vertraut.
    Er spielte »Krönt ihn mit vielen Kronen«; dann versuchte er es mit
»Der Sohn des Herrn zieht in den Krieg«. Der beste Standort für die
Schneiderpuppe war ein Beet mit Portulakröschen; die niedrigwachsenden Pflanzen
mit den fleischigen Blättern verhüllten den Sockel, und die kleinen Blüten – von denen die meisten sich über Nacht geschlossen hatten – bissen sich nicht
mit dem weihnachtssternroten Kleid. Es verhüllte zur Gänze die
Drahtgeflechthüften der Puppe; und von dem dünnen schwarzen Stab, der sie mit
dem Sockel verband, war im Halbdunkel nichts zu sehen – als stehe meine Mutter
nicht mit den Füßen auf dem Boden, sondern habe es vorgezogen, wenige
Zentimeter über dem Blumenbeet zu schweben. Ich ging zwischen dem Blumenbeet
und dem Eingang zum Pfarrbüro hin und her, um festzustellen, wie die Puppe von
dort aus wirkte – und sie so zu drehen, daß man die unvergeßliche Gestalt
meiner Mutter auf den ersten Blick erkannte. Die Beleuchtung war optimal, das
gedämpfte Licht aus dem Altarraum erhellte sie gerade genug, um das
scharlachrote Glühen des Kleides zu unterstreichen, doch es fiel nicht so viel
Licht auf sie, daß das Fehlen des Kopfes allzusehr ins Auge sprang. [767]  Der Kopf und die Füße waren einfach nicht da – oder von den Schatten der Nacht verschlungen. Von der Tür zum Pfarrbüro aus
wirkte die Gestalt meiner Mutter zugleich äußerst lebendig und gespenstisch;
die »Lady in Red« schien bereit, ihre Stimme ertönen zu lassen. Das gelbe
Blinklicht an der Kreuzung der Tan Lane und der Front Street verstärkte die
Wirkung noch; und sogar die Lichtkegel der Autos, die hin und wieder
vorbeifuhren, waren weit genug entfernt, um die Gestalt im Blumenbeet noch
schemenhafter erscheinen zu lassen.
    Ich packte den Baseball; seit jenem letzten Spiel in der
Schülermannschaft hatte ich keinen mehr in der Hand gehabt. Ich befürchtete,
ihn nicht richtig zu fassen zu kriegen, denn die ersten zwei Glieder des
Zeigefingers spielen beim Werfen eines Baseballs eine große Rolle; aber ich
brauchte ihn ja nicht weit zu werfen. Ich wartete, bis die Orgel verstummte; im
gleichen Augenblick warf ich den Baseball so fest ich konnte in eines der hohen
Buntglasfenster im Altarraum. Er machte ein kleines Loch in die Scheibe, und
ein weißer Lichtstrahl – wie der einer Taschenlampe – schien hinauf ins Geäst
einer riesigen Ulme, hinter deren Stamm ich mich versteckte, um auf Pastor
Merrill zu warten.
    Er brauchte einen Augenblick, bis er festgestellt hatte, was durch eines der Chorfenster in die Kirche geworfen
worden war. Ich denke, der Baseball muß an den Orgelpfeifen vorbei oder sogar
bis direkt vor die Kanzel gerollt sein.
    »Johnny!« hörte ich meinen Vater rufen. Die Tür von der Kirche zum
Pfarrbüro wurde geöffnet und wieder geschlossen. »Johnny – ich weiß, du bist
wütend, aber das ist doch kindisch!« rief er. Ich hörte seine Schritte in dem
Flur mit den Kleiderhaken – vor dem Pfarrbüro. Dann riß er, den Baseball in der
rechten Hand, die Tür auf und blinzelte in das gelbe Blinklicht an der
Straßenkreuzung. »Johnny!« rief er noch einmal. Er trat aus der Tür; er blickte
erst nach links, in

Weitere Kostenlose Bücher