Owen Meany
draußen
unter dem wolkenverhangenen Himmel. Und es kommt noch schlimmer: die Toronto
Blue Jays stehen im Kampf um die Meisterschaft; wenn sie’s in die World Series
schaffen, wird in der ganzen Stadt nur noch über Baseball geredet werden.
Es gibt Zeiten, da muß ich den siebenunddreißigsten Psalm immer und
immer wieder lesen.
Steh ab vom Zorn und laß den Grimm,
entrüste dich nicht, damit du nicht Unrecht tust.
Ich habe eine harte Woche an der Schule hinter mir. In jedem
Herbst verlange ich erst mal zuviel von meinen Schülerinnen; und dann bin ich
unsinnig enttäuscht von ihnen – und von mir. Ich habe sie zu sarkastisch
behandelt. Und meine neue Kollegin – Ms. Eleanor Pribst – drängt mich wahrlich
dazu, Unrecht zu tun!
Diese Woche habe ich meinen jüngeren Schülerinnen eine Gespenstergeschichte
von Robertson Davies vorgelesen – »The [757] Ghost
Who Vanished by Degrees«. Mitten in der Geschichte, die ich göttlich finde,
stellte ich mir plötzlich die Frage: Was wissen diese Mädchen schon über das
Leben von Studenten, über Doktorarbeiten und das akademische Gehabe, das Davies
so köstlich durch den Kakao zieht? Meine Schülerinnen wirkten reichlich
verschlafen; ihre Aufmerksamkeit war alles andere als ungeteilt. Ich ärgerte
mich über sie, und deshalb las ich schlampig, wurde der Geschichte nicht
gerecht; dann ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich gerade diese
Geschichte gewählt hatte, ohne das Alter meines Publikums und seinen Mangel an
Lebenserfahrung zu berücksichtigen. Mein Gott, was für eine Situation!
In dieser Geschichte erklärt Davies, Doktoranden seien »in der Regel
spritzig wie Champagner – wie kanadischer Champagner…« Das ist wirklich
köstlich, wie Großmutter immer sagte; ich werde das wohl mal bei Eleanor Pribst
anbringen, wenn sie sich wieder einmal bemüht, geistreich zu sein! Ich werde
mir dann den Stumpf meines rechten Zeigefingers ins rechte Nasenloch stecken – was ihr den Eindruck vermittelt, ich könne die beiden vorderen Glieder des
Fingers so weit in die Nase stecken, daß die Fingerspitze sich irgendwo
zwischen den Augen befindet; nachdem ich so ihre Aufmerksamkeit auf mich
gezogen habe, werde ich dann den köstlichen Satz über die Spritzigkeit von
Doktoranden zum besten geben.
In der Grace Church senkte ich den Kopf und bemühte mich, meinen
Ärger beiseite zu schieben. Die beste Möglichkeit, alleine in einer Kirche zu
sein, hat man, wenn man nach dem Sonntagsgottesdienst noch ein wenig dableibt.
Diese Woche habe ich in meinem Kurs über kanadische Literatur einen
Sermon zum Thema »schwungvolle Anfänge« abgelassen. Ich habe meinen
Schülerinnen gesagt, wenn die Bücher, die ich sie lesen lasse, auch nur halb so
träge anfingen wie ihre Referate über Timothy Findleys Famous Last Words, hätten sie es nie geschafft, auch nur ein einziges
davon durchzuackern! Ich habe [758] ihnen
Findleys Roman als Beispiel dafür vorgeführt, was ich unter einem schwungvollen
Anfang verstehe – die schockierende Szene, in der der Vater seinen
zwölfjährigen Sohn mit hinauf aufs Dach des ›Arlington Hotel‹ nimmt, um ihm den
Anblick von Boston, Cambridge, Harvard und dem Charles, der die Stadt
durchfließt, vorzuführen und dann vor seinen Augen fünfzehn Stockwerke tief in
den Tod zu springen; das muß man sich mal vorstellen. Das kommt dem Anfang von
Thomas Hardys Bürgermeister von Casterbridge gleich,
in dem Michael Henchard so betrunken ist, daß er seine Frau und seine Tochter
in einer Wette verliert; das muß man sich mal
vorstellen! Hardy wußte, was er tat; das wußte er immer.
Was bedeutete es wohl, fragte ich meine schludrigen Schülerinnen,
daß ihre Referate grundsätzlich erst »begannen«, nachdem sie vier oder fünf
Seiten lang auf der Suche nach einem Anfang in einem Ideenbrei herumgewatet
waren? Wenn sie vier oder fünf Seiten brauchten, um den richtigen Einstieg zu
finden, warum dachten sie dann nie daran, ihr Referat noch einmal zu
überarbeiten und erst mit Seite vier oder fünf zu beginnen?
Oh, diese jungen Dinger, wo ist bei den jungen Leuten nur der Sinn
für geistreiche, spritzige Lektüre? Bei dem Versuch, meinen Mädchen Anthony
Trollope näherzubringen, kommen mir die Tränen; es macht mir weniger aus, daß
anscheinend auch ihnen die Tränen kommen, weil sie gezwungen sind, seine Bücher
zu lesen. Ganz besonders begeistert bin ich von dem Vergnügen, das Barchester Towers bietet; doch dieser Fernsehgeneration
etwas von
Weitere Kostenlose Bücher