Owen Meany
Richtung Gravesend Academy, und dann nach rechts, die Front
Street entlang – dann schaute er auf die [768] Blumenbeete,
die das Licht erhellte, das durch die Buntglasfenster aus dem Altarraum drang.
Und dann sank Rev. Lewis Merrill auf die Knie und drückte den Baseball fest an
sein Herz.
»Tabby!« flüsterte er. Er ließ den Ball fallen und hinaus auf den
Gehsteig an der Front Street rollen. »Mein Gott – vergib mir!« stieß Pastor
Merrill hervor. »Tabby – ich hab’s ihm nicht gesagt!
Ich hab dir versprochen, ihm nichts zu sagen, und ich hab ihm nichts gesagt – ich war es nicht!« rief mein Vater aus. Sein Kopf begann
hin- und herzuschwanken – er konnte sie nicht ansehen – und er hielt sich mit
beiden Händen die Augen zu. Er fiel auf die Seite, sein Kopf berührte den
Streifen Gras am Rand des Weges zum Pfarrbüro, und er zog die Knie an die Brust – als wäre ihm kalt, wie ein Baby kurz vor dem Einschlafen. Ohne die Hände von
den Augen zu nehmen, stöhnte er: »Bitte, Tabby – vergib mir!«
Dann begann er wirres Zeug vor sich hinzustammeln; seine Stimme war
nur noch ein Flüstern, und er zuckte immer wieder zusammen, dort am Boden. Den
leisen Geräuschen, die er von sich gab und den schwachen Zuckungen konnte ich
immerhin entnehmen, daß er noch lebte. Ich muß gestehen, ich war ein wenig
enttäuscht, daß ihn der Schock, plötzlich meine Mutter vor sich zu sehen, nicht
umgebracht hatte. Ich packte die Schneiderpuppe und klemmte sie mir unter den
Arm; einer von Maria Magdalenas leichenblassen Armen fiel zu Boden, und ich
klemmte ihn unter meinen anderen Arm. Dann hob ich den Baseball auf und steckte
ihn wieder in die Tasche. Ich fragte mich, ob mein Vater wohl hörte, wie ich
umherlief, denn er krümmte sich noch mehr zusammen, in seiner Embryostellung,
und preßte die Hände noch fester auf die Augen – als fürchte er, daß meine
Mutter näher kam. Vielleicht hatten ihn die überlangen, knochenweißen Arme
besonders erschreckt – vielleicht hatten sie auf ihn gewirkt, als habe der Tod
die Reichweite meiner Mutter vergrößert, und vielleicht war sich Rev. Lewis
Merrill sicher, daß sie ihn gleich berühren würde.
Ich packte die Puppe und Maria Magdalenas Arme in meinen [769] Käfer und fuhr nach Rye Harbor, an den
Wellenbrecher. Es war Mitternacht. Ich warf den Baseball so weit hinaus ins
Hafenbecken wie ich konnte; mit einem leisen Klatschen fiel er ins Wasser, ohne
die Möwen aufzuschrecken. Ich schleuderte auch die langen schweren Arme von
Maria Magdalena hinaus ins Wasser; sie tauchten mit einem lauteren Klatschen
ins Wasser ein, doch das Geräusch der vertäuten Boote, die auf den Wellen
schaukelten, und die Brandung, die draußen gegen den Wellenbrecher donnerte,
hatten die Möwen abgestumpft, so daß kein vom Wasser
hervorgerufenes Geräusch sie mehr aufschreckte.
Dann kletterte ich, die Schneiderpuppe mit ihrem roten Kleid unterm
Arm, auf den Wellenbrecher hinaus; der Hochwasserstand war eben überschritten,
die Flut begann sich zurückzuziehen. Ich watete vom Ende des Wellenbrechers
hinaus in die Fahrrinne; schnell stand ich bis zur Brust im Wasser und mußte
mich bis zum letzten Granitklotz auf dem Wellenbrecher zurückziehen – damit ich
die Puppe so weit wie möglich in den Ozean hinauswerfen konnte. Ich wollte
sicher sein, daß sie in der Fahrrinne landete, von der ich wußte, daß sie sehr
tief war. Einen Augenblick drückte ich mir die Puppe gegens Gesicht; doch wenn
einmal irgendein Duft an dem roten Kleid gehangen hatte, so war er längst
verschwunden. Dann warf ich die Puppe in die Fahrrinne.
Einen schrecklichen Augenblick lang trieb sie auf dem Wasser. In
ihrem Körper, dem hohlen Drahtgeflecht, war Luft eingefangen. Dann drehte sich
die Puppe im Wasser auf den Rücken. Ich sah, wie sich der wundervolle Busen
meiner Mutter über die Wasseroberfläche erhob – » DIE SCHÖNSTEN
BRÜSTE VON ALLEN MÜTTERN !«, wie Owen Meany gesagt hatte. Dann
drehte sich die Puppe wieder; Luftblasen entstiegen dem Körper, und die »Lady
in Red« versank in der Fahrrinne, draußen vor dem Wellenbrecher in Rye Harbor;
Owen Meany war fest davon überzeugt gewesen, daß er ein Recht hatte, hier zu
sitzen und aufs Meer hinauszuschauen.
[770] Ich sah die Sonne aufgehen, sich
wie eine leuchtende Murmel über die granitgraue Oberfläche des Atlantiks
erheben. Dann fuhr ich zu der Wohnung in Durham, die ich mit Hester teilte,
duschte und zog mich für Owens Beerdigung an. Ich wußte
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