Owen Meany
SO VIELE ZWEIFEL HAT, DANN IST ER IM
FALSCHEN GESCHÄFT.«
Doch wer außer Owen Meany und Rector Wiggin hatte so wenig Zweifel? Owen hatte keine Probleme mit dem Glauben,
doch mein Wohlwollen für Pastor Merrill und meine Verachtung für Rector Wiggin
basierten auf gesundem Menschenverstand. Ich nahm eine typisch neuenglische
Haltung ein; der Wheelwright in mir war ganz für Lewis Merrill und ganz gegen
Dudley Wiggin. Wir Wheelwrights lästern nicht über den äußeren Anschein der
Dinge. Die Dinge sind oft so, wie sie aussehen. Der
erste Eindruck [164] ist durchaus wichtig. Die
kongregationalistische Kirche, ein sauberer, heller Ort der Andacht – ihre
makellos weißen Schindeln, die hohen, blanken Fenster, die den Blick auf die
Äste der Bäume und den Himmel dahinter lenkten – das war ein erster Eindruck,
der in mir haften blieb; es war ein Muster an Klarheit und Zweckmäßigkeit, mit
der die episkopale Düsterkeit aus Steinen, Bilderteppichen und Buntglasfenstern
nicht konkurrieren konnte. Und Pastor Merrill sah obendrein noch gut aus – er
wirkte eindringlich, etwas blaß und leicht unterernährt. Er hatte ein
jungenhaftes Gesicht – sein plötzliches, gewinnendes, verlegenes Lächeln stand
im Gegensatz zu dem ständig besorgten Gesichtsausdruck, der ihm meist das Aussehen
eines ängstlichen Kindes verlieh. Eine widerspenstige Locke fiel ihm in die
Stirn, wenn er hinabsah auf seine Predigt oder sich über die Bibel beugte – eine widrige Begleiterscheinung des dichten Haarbüschels zwischen den
Geheimratsecken, das sein jungenhaftes Aussehen noch unterstrich. Und immer
legte er seine Brille, die er anscheinend gar nicht brauchte – er konnte auch
ohne sie lesen, auch ohne sie den Blick, der keineswegs wie der eines Blinden
wirkte, auf seine Gemeinde richten – irgendwohin, wo er sie nicht wiederfand,
und begann dann, ganz plötzlich, hektisch nach ihr zu suchen. Es war rührend;
genau wie sein Stottern, denn dann wurden wir nervös, fürchteten, er sei
vielleicht plötzlich seiner ausgefeilten Sprache beraubt worden und mit einer
schrecklichen Sprachstörung geschlagen. Er war sprachgewandt, doch nie wirkte
er beim Sprechen so, als koste es ihn keine Mühe; ganz im Gegenteil, man sah
ihm deutlich an, welch harte Arbeit das war – seinen Glauben und zugleich seine
Zweifel zu verdeutlichen und trotz seines Stotterns gut zu sprechen.
Und was ihn noch liebenswerter machte: Wir bedauerten ihn wegen
seiner Familie. Seine Frau kam aus Kalifornien, aus dem sonnigen Teil. Meine
Großmutter sprach immer wieder die Vermutung aus, sie sei wohl eine jener
ständig braungebrannten, gut [165] gebauten
Frauen gewesen – rundum gesund, jedoch etwas voreilig davon überzeugt, daß
Gesundheit und grenzenlose Energie für gute Taten das natürliche Resultat eines
gesunden Lebens und praktischer Werte waren. Niemand hatte ihr gesagt, daß
Gesundheit und Energie und Gottes Werk bei schlechtem Wetter eine etwas
mühsamere Angelegenheit sind. Mrs. Merrill fühlte sich in New Hampshire nicht
wohl.
Sie fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl. Ihre blonden Haare
wurden aschfahl; Wangen und Nase nahmen die Farbe von rohem Lachs an, ihre
Augen wurden wässrig – sie bekam jede Grippe, jede Erkältung, die im Umlauf
war; kein Virus ließ sie unbehelligt. Entsetzt, daß sie ihre kalifornische
Bräune verloren hatte, versuchte sie es mit Make-up; doch davon wurde ihre Haut
wie Ton. Selbst im Sommer wurde sie nicht braun; ihre Haut nahm im Winter eine
so blasse Farbe an, daß die Sommersonne sie sofort verbrannte. Unentwegt fühlte
sie sich schlecht, und das zehrte an ihrer Energie; sie wurde teilnahmslos; sie
nahm um die Hüften herum zu und bekam den unklaren, verschwommenen Blick einer
Frau über vierzig, die auch schon sechzig sein oder es morgen werden mochte.
All dies geschah mit Mrs. Merrill, als ihre Kinder noch klein waren;
auch sie waren kränklich. Obwohl sie gute Schüler waren, fehlten sie
krankheitshalber so oft, daß sie ganze Klassen wiederholen mußten. Zwei von
ihnen waren älter als ich, aber nicht viel; einer wurde sogar in meine Klasse
zurückversetzt – wer es war, weiß ich nicht mehr; ich weiß nicht mal, ob es ein
Junge oder ein Mädchen gewesen ist. Das war ein weiteres Problem, unter dem die
Kinder der Merrills litten: man vergaß sie. Wenn man sie einmal ein paar Wochen
lang nicht sah und dann wieder zu Gesicht bekam, hatte man den Eindruck, sie
seien durch andere Kinder ersetzt
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