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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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liebenswürdigen, treuen Mann kosten kann.«
    »Wir warten nur ab, um ganz sicherzugehen«, erwiderte meine Mutter.
    »Meine Güte, ihr müßt euch doch langsam sicher sein«, sagte
Großmutter ungeduldig. »Selbst ich bin sicher, und
Johnny ist [157]  auch sicher. Und Sie sind doch
auch sicher, Lydia?« wollte Großmutter wissen.
    »Sicher bin ich mir sicher«, antwortete Lydia.
    »Kinder sind nicht das Problem«, sagte meine Mutter. »Es gibt kein
Problem.«
    »Manche Männer haben weniger Zeit gebraucht, um sich für das
Priesteramt zu entscheiden, als du, um zu heiraten!« sagte Großmutter zu meiner
Mutter.
    Sich für das Priesteramt entscheiden, das war eine der
Lieblingswendungen meiner Großmutter; sie verwendete sie stets im Zusammenhang
mit unerträglicher Dummheit, selbstverschuldeten Schwierigkeiten und
Handlungen, die ebenso unmenschlich wie dumm waren. Großmutter meinte das
katholische Priesteramt; dennoch weiß ich, daß ihre Betroffenheit, als sie
mitansehen mußte, wie Mutter und ich zu den Episkopalen übertraten, nicht
zuletzt daher rührte, daß es in der Episkopalkirche Priester und Bischöfe gibt – die Episkopalen standen ihrer Meinung nach den Katholiken viel näher als die
Kongregationalisten. Eines war gut: Großmutter wußte nicht allzuviel über
Anglikaner.
    Während ihrer langen Verlobungszeit gingen Dan und meine Mutter
sowohl bei den Kongregationalisten als auch bei den Episkopalen zur Messe, als
würden sie ein vierjähriges theologisches Seminar absolvieren, ganz privat – und auch ich konnte mich ganz allmählich mit der Sonntagsschule der
Episkopalkirche vertraut machen; auf den Vorschlag meiner Mutter hin besuchte
ich schon einige Klassen in der Sonntagsschule, ehe die beiden heirateten, als
wüßte meine Mutter bereits, welche Richtung wir einschlagen würden. Genauso
allmählich hörte sie schließlich auf, nach Boston zum Gesangsunterricht zu
fahren. Mir ist nichts darüber bekannt, daß Dan dieses Ritual auch nur im
geringsten störte, doch ich entsinne mich, daß Großmutter meine Mutter einmal
fragte, ob Dan etwas dagegen habe, wenn sie eine Nacht in der Woche in Boston
verbringe.
    [158]  »Warum sollte er?« fragte meine
Mutter zurück.
    Die Antwort, die auf sich warten ließ, war meiner Großmutter so klar
wie mir: daß der wahrscheinlichste Kandidat für die vakante Position meines
Vaters und des geheimnisvollen Liebhabers meiner Mutter jener »berühmte«
Sprech- und Gesangslehrer war. Doch weder Großmutter noch ich trauten uns,
meiner Mutter diese Theorie zu unterbreiten, und Dan Needham hatte
offensichtlich keine Probleme mit den Gesangsstunden, zu denen meine Mutter
auch weiterhin fuhr, und auch nicht mit der einen Nacht, die sie weiterhin in
Boston verbrachte; oder Dan verfügte über ein beruhigendes Wissen, das vor
meiner Großmutter und mir geheimgehalten wurde.
    »DEIN VATER IST NICHT DER GESANGSLEHRER«, erklärte
mir Owen nüchtern. »DAS WÄRE ZU OFFENSICHTLICH.«
    »Das hier ist das wirkliche Leben«, meinte ich, »und kein
Kriminalroman.« Was ich damit sagen wollte, war, daß es im wirklichen Leben
kein Gesetz gab, daß mein unbekannter Vater nicht jemand »Offensichtliches«
sein konnte –, doch im Grunde glaubte ich auch nicht, daß es der Gesangslehrer
war. Er war nur deshalb der wahrscheinlichste Kandidat, weil er der einzige Kandidat war, auf den meine Großmutter und ich
kamen.
    »WENN ER ES IST, WARUM SOLLTE ES DANN GEHEIM
BLEIBEN?« fragte Owen, »WENN ER ES
IST, WÜRDE IHN DEINE MUTTER DANN NICHT ÖFTER SEHEN – ODER ÜBERHAUPT NICHT?«
    Jedenfalls war es an den Haaren herbeigezogen, daß der Gesangslehrer
der Grund sein könnte, warum meine Mutter und Dan vier Jahre lang warteten, ehe
sie heirateten. Also schloß ich etwas daraus, was Owen als zu OFFENSICHTLICH bezeichnen würde: daß Dan auf weitere
Informationen wartete, Informationen, die mich betrafen, und daß meine Mutter diese nicht preisgeben wollte. Denn hätte Dan
nicht guten Grund gehabt, wissen zu wollen, wer mein Vater war? Und ich weiß,
daß meine Mutter ihm das nicht gesagt hätte.
    [159]  Doch Owen tat auch diesen
Gedanken ab. »SIEHST DU DENN NICHT, WIE SEHR DAN DEINE MUTTER
LIEBT?« fragte er mich. »ER LIEBT SIE
GENAUSOSEHR WIE WIR! ER WÜRDE SIE NIEMALS ZWINGEN, IHM IRGENDWAS ZU BEICHTEN!«
    Heute glaube ich das auch. Owen hatte recht. Es lag an etwas
anderem; diese vierjährige Verzögerung des Offensichtlichen.
    Dan kam aus einer sehr hochkarätigen Familie; sie

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