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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war, daß er voller Zweifel steckte; er drückte unsere Zweifel auf eine
überaus gewählte und mitfühlende Weise aus. Nach seiner höchst präzisen und
überzeugenden Ansicht ist die Bibel ein Buch mit einer beunruhigenden Handlung;
aber mit einer Handlung, die man durchaus verstehen kann: Gott hat uns aus
Liebe geschaffen, doch wir wollen Gott nicht, oder wir glauben nicht an ihn,
oder wir schenken ihm nur sehr wenig Beachtung. Nichtsdestoweniger liebt Gott
uns weiterhin – zumindest versucht er, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken. Pastor Merrill ließ Religion vernünftig erscheinen. Und der Trick bei
der Sache mit dem Glauben, so sagte er, sei der, daß man an Gott glauben müsse, ohne großartige oder auch nur vage Gewißheit verschaffende
Beweise dafür zu haben, daß wir nicht in einem gottlosen Universum leben.
    Obwohl er auch die besten – oder zumindest die am wenigsten
langweiligen – Geschichten aus der Bibel kannte, war Mr.   Merrill hauptsächlich
deshalb so faszinierend, weil er uns versicherte, daß Zweifel die Grundlage des
Glaubens und nicht das Gegenteil von Glauben seien. Bei Rev. Dudley Wiggin
hingegen war, was immer [162]  er gesehen haben
mochte, das ihn an Gott glauben ließ, eine absolute Erleuchtung gewesen – vielleicht war er mit dem Flugzeug zu nahe an die Sonne gekommen. Der Rector
hatte kein Talent für Sprache, und er hatte kein
Verständnis für Zweifel oder Unsicherheiten jeglicher Art; vielleicht waren die
»Probleme mit den Augen«, die ihn zum vorzeitigen Rückzug aus dem Pilotensitz
gezwungen hatten, in Wirklichkeit nur ein Euphemismus für die blind machende
Wirkung seiner völligen Hinwendung zur Religion – denn Mr.   Wiggins
Furchtlosigkeit nahm Ausmaße an, die ihn als Piloten zur Gefahr gemacht hätten
und als Prediger zum Verrückten.
    Selbst die Bibelstellen, die er im Gottesdienst verwendete, waren
absonderlich; kein Satiriker hätte sie besser auswählen können. Rev. Mr.   Wiggin
hatte es besonders mit dem Wort »Firmament«; in seinen Bibelzitaten kam immer
ein Firmament vor. Und er mochte alle Anspielungen auf den Glauben als Kampf, der kühn auszufechten und siegreich zu beenden ist;
der Glaube war ein Krieg, der gegen die Gegner des
Glaubens geführt wurde. »Ziehet an die Waffenrüstung Gottes!« verkündete er
leidenschaftlich. Uns wurde aufgetragen, den »Panzer der Gerechtigkeit« zu
tragen; unser Glaube war ein »Schild« – gegen »alle feurigen Pfeile des Bösen«.
Der Rector sagte, er trüge einen »Helm des Heils«. Das ist aus dem
Epheserbrief; Mr.   Wiggin war ein großer Fan des Epheserbriefes. Außerdem hatte
er es mit Jesaja, vor allem mit der Stelle, wo »der Herr auf einem hohen und
erhabenen Thron sitzt«; vom Herrn auf dem Thron war er sehr angetan. Der Herr
ist von Seraphim umgeben. Einer der Seraphim fliegt zu Jesaja, der darüber
klagt, er sei »unreiner Lippen«. Nicht lange, jedenfalls nicht nach Jesaja. Der
Seraphim berührt Jesajas Mund mit einer »glühenden Kohle«, und Jesaja ist so
gut wie neu.
    Das bekamen wir von Rev. Dudley Wiggin zu hören: all die
unwahrscheinlichen Wunder.
    [163]  »ICH MAG DIE SERAPHIM
NICHT«, beschwerte sich Owen. »WOZU SOLL ES
GUT SEIN, WENN MAN JEMANDEM ANGST EINJAGT?«
    Doch obgleich Owen mir zustimmte, daß der Rector ein Idiot war, der
die Bibel vermurkste, um uns zögerlichen Gläubigen mit einer schlimmen
Kombination von Gott dem Allmächtigen und Gott dem Schrecklichen Angst
einzujagen – und obgleich Owen zugab, daß die Predigten von Mr.   Wiggin ungefähr
so unterhaltend und überzeugend waren wie die Lautsprecherstimme eines Piloten,
der, während die Maschine abwärts stürzt und die Stewardessen herumkreischen,
die aufgetretenen technischen Schwierigkeiten erklärt – so gab Owen Wiggin doch
den Vorzug gegenüber dem wenigen, was er von Mr.   Merrill wußte. Owen wußte
nicht viel über Mr.   Merrill, das sollte ich noch hinzufügen; Owen war nie
Kongregationalist gewesen. Doch Merrill war ein so beliebter Prediger, daß die
Pfarrer der anderen Gemeinden in Gravesend öfter mal einen Gottesdienst
ausfallen ließen, um sich eine Predigt von ihm anzuhören. Auch Owen tat dies
gelegentlich, aber Owen war immer kritisch. Selbst als die Gravesend Academy
Pastor Merrill intellektuelle Ehren erwies – ihn häufig als Gastprediger in die
konfessionsfreie Kirche der Academy einlud – blieb Owen kritisch.
    »GLAUBE HAT NICHTS MIT INTELLEKT ZU TUN«, beschwerte
er sich. »WENN ER

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