Owen Meany
gehen.
Jedenfalls hatten Owen und ich keine Angst, daß die Brinker-Smiths
uns stören könnten, während wir die Räume der Jungen im Erdgeschoß von
Waterhouse Hall durchsuchten; ganz im Gegenteil, wir waren enttäuscht, während
dieser Weihnachtsferien so wenig von den Brinker-Smiths zu sehen – denn
eigentlich hatten wir uns erhofft, einen Blick auf Ginger Brinker-Smith werfen
zu können, wie sie gerade stillte. Manchmal trieben wir uns sogar extra auf dem
Flur im Erdgeschoß herum in der vagen Hoffnung, Mr. Brinker-Smith würde
vielleicht seine Wohnungstür öffnen, Owen und mich herumstehen sehen, ganz offensichtlich
nicht mit einer pädagogisch wichtigen Aufgabe befaßt, und uns deshalb sofort in
seine Wohnung einladen, damit wir sehen konnten, wie seine Frau die Zwillinge
stillte. Leider tat er das nicht.
An einem frostigen Tag begleiteten Owen und ich Mrs. Brinker-Smith
zum Markt und schoben abwechselnd die dick eingemummelten Zwillinge in ihrem
Doppelkinderwagen vor uns her – wir schleppten sogar das Gemüse in die Wohnung
der [222] Brinker-Smiths, und das nach einem
Marsch unter so erbarmungslosen Wetterbedingungen, daß wir damit sogar
vielleicht ein Fünftel von Mr. Tubularis Winter-Pentathlon bestanden hätten.
Doch zog Mrs. Brinker-Smith nun ihre Brüste hervor und bot sie an, ihre
Zwillinge vor unseren Augen zu stillen? Leider tat sie das nicht.
So konnten Owen und ich nur herausfinden, was die Schüler der
Gravesend Academy in ihren Zimmern zurückließen, wenn sie über Weihnachten nach
Hause fuhren. Wir holten Dan Needhams Generalschlüssel von dem Haken in der
Küche neben dem Büchsenöffner und fingen mit den Räumen im dritten Stock an.
Bei dieser Detektivarbeit war Owen bis aufs äußerste angespannt; er betrat
jeden Raum, als sei der Bewohner nicht über
Weihnachten nach Hause gefahren, sondern lauere aller Wahrscheinlichkeit nach
unterm Bett oder im Wandschrank – mit einer Axt. Und Owen ließ sich auch nicht
drängeln, nicht mal im langweiligsten Zimmer. Er sah in jede Schublade,
inspizierte jedes Kleidungsstück, setzte sich auf jeden Schreibtischstuhl,
legte sich auf jedes Bett – das war in jedem Zimmer seine letzte Amtshandlung:
Er legte sich aufs Bett des jeweiligen Schülers und schloß die Augen; er hielt
die Luft an. Erst wenn er wieder normal atmete, verkündete er seine Meinung
über den Bewohner des Zimmers – ob er in der Academy glücklich war oder nicht;
ob er vielleicht Probleme mit fernen Ereignissen zu Hause oder in der
Vergangenheit hatte. Owen gab es immer zu – wenn der Zimmerbewohner ihm ein
Rätsel war. » DER HIER IST MIR WIRKLICH EIN RÄTSEL «,
sagte Owen dann, » ZWÖLF PAAR SOCKEN, KEINE UNTERWÄSCHE, ZEHN HEMDEN,
ZWEI HOSEN, EINE SPORTJACKE, EIN SCHLIPS, ZWEI LACROSSE-SCHLÄGER, KEIN BALL,
KEINE BILDER VON MÄDCHEN, KEINE FAMILIENFOTOS UND KEINE SCHUHE.«
»Er muß doch Schuhe tragen«, wandte ich ein.
»NUR EIN PAAR.«
[223] »Er hat jede Menge
Kleider in die Reinigung geschickt, direkt vor den Ferien«, meinte ich.
»SCHUHE SCHICKT MAN NICHT IN DIE REINIGUNG, UND AUCH
KEINE FAMILIENFOTOS«, entgegnete Owen, »WIRKLICH EIN
RÄTSEL.«
Bald hatten wir herausgefunden, wo wir nach Sexzeitschriften und
schmutzigen Bildern suchen mußten: zwischen der Matratze und den Sprungfedern.
Bei einigen lief es Owen KALT DEN RÜCKEN RUNTER . Damals waren
derartige Bilder auf beunruhigende Weise undeutlich – oder aber auf
enttäuschende Weise gesund; zur letzteren Kategorie zählten die Kalender mit Frauen
in Badeanzügen. Die Bilder der beunruhigenderen Sorte hatten die Qualität von
Schnappschüssen, die Kinder aus fahrenden Autos knipsen; die Frauen schienen
eher in einer Bewegung festgehalten, als daß sie posierten – als seien sie bei
einer eiligen Handlung von der Kamera überrascht worden. Die Handlung selbst
war unklar – zum Beispiel beugte sich eine Frau aus einem nicht näher zu
definierenden Grund über einen Mann, als wolle sie einem völlig wehrlosen
Leichnam Gewalt antun. Und die Geschlechtsteile der Frauen waren durch das
Schamhaar oft nur undeutlich zu sehen – einige hatten viel mehr Schamhaar, als
Owen und ich es für möglich gehalten hätten – und der Blick auf die Brustwarzen
war uns durch die schwarzen Balken des Zensors versperrt. Zuerst dachten wir,
diese Balken seien Folterinstrumente; sie erschienen uns noch bedrohlicher als
die reine Nacktheit. Die war an sich schon bedrohlich – größtenteils deshalb,
weil die
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