Owen Meany
irgendeinen Grund
zum Grinsen hätte, » WAS HAT JOSEF ÜBERHAUPT MIT DEM GANZEN ZU TUN ?«
fragte Owen beleidigt. » ER MAG JA AN DER KRIPPE RUMSTEHEN, ABER ER SOLLTE
WENIGSTENS NICHT GRINSEN !« Und immer durfte das hübscheste Mädchen die Rolle
der Maria spielen. »WAS HAT DENN DAS AUSSEHEN DAMIT ZU TUN?« fragte
Owen, »WER SAGT DENN, DASS MARIA HÜBSCH WAR?«
Und die ganz persönliche Note, die die beiden Wiggins in das [215] Krippenspiel hineinbrachten, ließ Owen vor Wut
schäumen – zum Beispiel die kleineren Kinder, die als Tauben verkleidet waren.
Diese Kostüme waren so absurd, daß niemand wußte, was die Kinder nun eigentlich
darstellen sollten; sie sahen aus wie Science-fiction-Engel, wie seltsame
Lebensformen aus einer anderen Galaxie, als hätten die beiden Wiggins
entschieden, bei der Geburt Christi seien Wesen von fernen Planeten zugegen
gewesen (oder hätten es zumindest sein sollen), » KEIN MENSCH
WEISS, WAS DIESE BLÖDEN TAUBEN SEIN SOLLEN !« beschwerte sich
Owen.
Und was das Christuskind selbst betraf, so war Owen schlichtweg
empört. Die Wiggins bestanden darauf, daß das Jesuskind keine Träne vergießen
durfte, und um dies zu bewerkstelligen, versammelten sie unnachgiebig Dutzende
von Kleinkindern hinter der Bühne; sie tauschten die Babies so ungeniert aus,
daß das Jesuskind schon beim kleinsten unheiligen Muckser oder Glucksen aus der
Krippe gezerrt – und sogleich durch ein stummes oder zumindest apathischeres
Baby ersetzt wurde. Zur Erfüllung der Aufgabe, im Handumdrehen ein frisches,
schweigendes Baby in die Krippe zu befördern, zog sich eine lange Reihe von
bedrohlich aussehenden Erwachsenen bis nach hinten in den Schatten der Kanzel,
hinter die violetten und kastanienbraunen Vorhänge unter dem Kruzifix. Diese
großen und behenden Erwachsenen, die die Babys gut im Griff hatten oder
zumindest ein zappeliges Jesuskind nicht so schnell fallenließen, paßten
überhaupt nicht ins Krippenspiel. Waren sie Könige oder Hirten – und warum
waren sie so viel größer als die anderen Könige und Hirten, obwohl sie
andererseits auch nicht direkt überlebensgroß wirkten? Ihre Kostüme sahen
kindlich aus, aber einige der Bärte waren echt, und sie schienen weniger vom
Geist der Weihnacht beseelt zu sein, sondern nur ergeben ihre Aufgabe zu
erfüllen – wie eine Eimerkette der freiwilligen Feuerwehr.
Im Hintergrund hatten sich die Mütter versammelt; das Gerangel, wer
das wohlerzogenste Jesuskind hatte, war heftig. Jede [216] Weihnacht
feierte das Krippenspiel der Wiggins nicht nur die Geburt des Jesuskindes,
sondern verschaffte auch einer höchst monströsen Schwesternschaft viele neue
Mitglieder: der der Darstellermütter. Ich sagte Owen, er könne doch froh sein,
»über« den Dingen zu schweben, doch Owen deutete an, daß ich und diverse andere
Schüler der Sonntagsschule zumindest teilweise für seine erniedrigende Erhebung
verantwortlich waren – denn waren wir es nicht
gewesen, die Owen zum ersten Mal in die Luft gehoben hatten? Mrs. Walker,
vermutete Owen, hatte Barb Wiggin vielleicht darauf gebracht, ihn als den
fliegenden Engel einzusetzen.
Kein Wunder also, daß Owen nicht begeistert war, als Dan auf den
Gedanken kam, ihn in Dickens’ Stück als Tiny Tim einzusetzen. »WENN ICH SAGE: ›FÜRCHTET EUCH NICHT, SIEHE, ICH VERKÜNDIGE EUCH
GROSSE FREUDE‹, FANGEN ALLE BABIES AN ZU WEINEN, UND DIE ANDEREN LACHEN. WAS
GLAUBEN SIE WOHL, WAS SIE MACHEN, WENN ICH ALS TINY TIM SAGE: ›GOTT SEGNE JEDEN
VON UNS‹?«
Natürlich lag es an seiner Stimme; er hätte genausogut sagen können:
» DAS ENDE DER WELT IST NAH !« Die Leute wären trotzdem
vor Lachen von den Stühlen gefallen. Es war Owens Crux, daß er kein Quentchen
Humor besaß – er war immer todernst – und gleichzeitig eine reichlich komische
Wirkung auf den Großteil seiner Mitmenschen hatte.
Kein Wunder also, daß er bereits sehr früh anfing, sich um das
Krippenspiel Gedanken zu machen, schon gegen Ende November, denn im Pfarrbrief
des letzten Sonntags des Kirchenjahres stand bereits die erste Ankündigung:
»Anmeldung für das Krippenspiel.« Die erste Probe fand nach der alljährlichen
Kirchengemeindeversammlung und den Wahlen zum Kirchenvorstand statt – kurz vor
Beginn der Weihnachtsferien. »Was möchtest du gerne sein?« fragte der Pfarrbrief
schwungvoll. »Wir brauchen Könige, Engel, Hirten, Esel, Tauben, eine Maria,
einen Josef, Babies und vieles mehr !«
[217] »VATER, VERGIB
IHNEN, DENN SIE
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