Owen Meany
WISSEN NICHT, WAS SIE TUN«, seufzte Owen.
Großmutter reagierte unwirsch, wenn wir in unserem Haus in der
Front Street spielten; es ist also kaum verwunderlich, daß Owen und ich die
Einsamkeit von Waterhouse Hall suchten. Da Dan nachmittags nicht im Gebäude
war, hatten Owen und ich fast das ganze Haus für uns allein. Auf jeder der vier
Etagen gab es Schlafräume für die Internatsschüler, die üblichen
Gemeinschaftsduschen, die Pissoirs und Klos sowie eine Lehrerwohnung am Ende
jedes Stockwerks. Dans Wohnung lag im zweiten Stock. Der Lehrer, der im ersten
Stock wohnte, war über Weihnachten nach Hause gefahren – wie einer seiner
Schüler wirkte der junge Mr. Peabody, ein unerfahrener Mathelehrer und
Junggeselle, der kaum Chancen hatte, hier seinen Familienstand zu verbessern,
und den meine Mutter als »Nervenbündel« bezeichnet hatte. Er war pingelig und
schüchtern und ließ sich von den Jungs leicht auf den Arm nehmen; in den
Nächten, in denen er Aufsicht hatte – über das ganze Gebäude – schäumte
Waterhouse Hall nur so vor Revolution. Es passierte an einem der Abende, als
Mr. Peabody Aufsicht hatte, daß einer der kleineren Schüler im dritten Stock
kopfüber durch das geöffnete Türchen in den Wäscheschacht hing; seine
erstickten Schreie drangen durchs ganze Haus, und Mr. Peabody, der im ersten
Stock die Tür zum Wäscheschacht öffnete, war schockiert, als er nach oben sah
und zwei Stockwerke über sich ein herunterhängendes schreiendes Kindergesicht
erblickte.
Mr. Peabody reagierte auf eine Weise, die stark an die von Mrs.
Walker erinnerte. »Van Arsdale!« schrie er nach oben. »Komm aus dem Schacht
raus! Nimm dich zusammen! Reiß dich am Riemen!« Nicht mal im Traum wäre der
arme Mr. Peabody darauf gekommen, daß Van Arsdale von zwei brutalen
Linienspielern des Gravesend Footballteams an den Fußgelenken festgehalten
wurde; sie quälten Van Arsdale tagtäglich.
[218] Mr. Peabody war also nach Hause
zu seinen Eltern gefahren, wodurch der erste Stock lehrerfrei war; und der
Sportfanatiker im dritten Stock – der Leichtathletiktrainer, Mr. Tubulari, war
ebenfalls über Weihnachten weg. Auch er war Junggeselle, und er hatte darauf
bestanden, im obersten Stock zu wohnen – aus gesundheitlichen Gründen; er
behauptete, es bereite ihm Genuß, die Treppen hinaufzurennen. Er hatte oft
Damenbesuch; und wenn diese Damen Kleider oder Röcke trugen, machten sich die
Jungen ein Vergnügen daraus, sie von einem der unteren Stockwerke aus beim
Hinauf- und Hinuntergehen zu beobachten. In den Nächten, in denen Waterhouse
Hall unter seiner Aufsicht zu leiden hatte, benahmen
sich die Schüler tadellos. Mr. Tubulari war schnell und lautlos, und er legte
es darauf an, die Missetäter »auf frischer Tat zu ertappen« – egal auf welcher:
bei Rasierschaumschlachten, beim Rauchen auf dem Zimmer, selbst beim
Masturbieren. Auf jedem Stock gab es einen speziellen Aufenthaltsraum für die
Raucher, das »Kippenzimmer«; doch auf den anderen Zimmern war Rauchen verboten – wie auch Sex in jeglicher Form, Alkohol in jeglicher Form und alles, was auch
nur entfernt an Drogen erinnerte, soweit es nicht vom Schularzt verschrieben
war. Mr. Tubulari hatte sogar bei Aspirin Bedenken. Laut Dan nahm Mr. Tubulari
über Weihnachten an einem mörderischen Athletikwettkampf teil – an einem
Fünfkampf, einem Pentathlon mit den härtesten Wintersportdisziplinen; einem
»Winter-thlon«, wie Mr. Tubulari es nannte. Dan Needham konnte derartige
Wortschöpfungen nicht ausstehen und erging sich in immer abenteuerlicheren
Vermutungen, an welchen Wintersportdisziplinen Mr.
Tubulari wohl teilnahm; der Fanatiker war nach Alaska gefahren, oder vielleicht
auch nach Minnesota.
Dan beschrieb Owen und mir oft und gern Mr. Tubularis Fünfkampf,
seinen »Winter-thlon«.
»Die erste Disziplin«, sagte Dan Needham, »ist irgendwas Gesundes,
so was wie Holzhacken – und es gibt Punkteabzug, wenn [219] die
Axt dabei kaputtgeht. Dann muß man zehn Meilen in tiefem Schnee laufen, oder
dreißig Meilen mit Schneeschuhen. Dann muß man ein Loch ins Eis hacken und – mit der Axt – eine Meile unter einem gefrorenen See durchschwimmen und sich am
gegenüberliegenden Ufer ein Loch freihacken, um wieder rauszukommen. Dann baut
man ein Iglu – um sich darin aufzuwärmen. Dann kommt das Rennen mit den
Schlittenhunden. Man muß eine Gruppe von Schlittenhunden von Anchorage bis nach
Chicago hetzen. Dann baut man
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