Owen Meany
Frauen nicht hübsch waren; oder aber ihr besorgter, ernster
Gesichtsausdruck fällte ein strenges Urteil über ihre eigene Nacktheit.
Viele der Fotos und Zeitschriften waren teilweise zerfleddert, weil
das Gewicht der Jungen sie tief in die metallenen Sprungfedern, von denen der
Rost bereits abbröckelte, hineingedrückt hatte; die Körper der Frauen wiesen
gelegentlich einen [224] spiralförmigen Abdruck
auf, als hätten ihnen die alten Federn ein rostiges Abbild vom fatalen Sog der
Wollust in das Fleisch eingeprägt.
Natürlich verdüsterten Pornofotos das Bild, das Owen sich von jedem
der Zimmerbewohner machte; wenn er mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und
endlich die lange angehaltene Luft ausstieß, sagte er: » NICHT
GLÜCKLICH. WER MALT EINEN SCHNURRBART AUF DAS GESICHT SEINER MUTTER UND WIRFT
MIT DARTPFEILEN NACH DEM BILD SEINES VATERS? WER DENKT BEIM ZUBETTGEHEN DARAN,
ES MIT EINEM SCHÄFERHUND ZU TREIBEN? UND WAS SOLL DIE HUNDELEINE IM SCHRANK?
UND DAS FLOHHALSBAND IN DER SCHREIBTISCHSCHUBLADE? ES IST DOCH GAR NICHT
ERLAUBT, IM INTERNAT TIERE ZU HALTEN, ODER?«
»Vielleicht ist sein Hund im Sommer gestorben«, überlegte ich. »Und
er hat die Leine und das Halsband behalten.«
»SICHER«, erwiderte Owen, »UND VERMUTLICH HAT SEIN VATER DEN HUND ÜBERFAHREN. UND SEINE
MUTTER HAT ES VIELLEICHT MIT DEM HUND GETRIEBEN ?«
»Das sind doch ganz gewöhnliche Gegenstände«, meinte ich. »Was
können wir schon über den Jungen sagen, der hier wohnt, ganz ehrlich?«
»NICHT GLÜCKLICH «, beharrte Owen.
Wir brauchten einen ganzen Nachmittag, um nur die Zimmer im dritten
Stock zu inspizieren; Owen ging bei seinen Untersuchungen so systematisch vor,
achtete so genau darauf, alles wieder genauso hinzulegen, wie es vorher gelegen
hatte, als könnten die Schüler von Gravesend ihm auch nur im entferntesten
ähnlich sein; als seien ihre Zimmer genauso wohlüberlegt eingerichtet wie das Museum,
in das Owen sein eigenes Zimmer verwandelt hatte. Sein Verhalten in den Zimmern
erinnerte an einen Geistlichen, der sich in einer uralten Kathedrale umsieht – als könne er darin eine uralte und zugleich heilige Ordnung erkennen.
Er stufte nur wenige Schüler als glücklich ein. Diese wenigen waren
Owens Meinung nach die, deren Spiegel mit Familienfotos [225] umgeben waren, und mit Bildern von richtigen Freundinnen (es
hätten ebensogut Schwestern sein können). Wer Kalender mit Badenixen hatte,
mochte durchaus auch glücklich sein oder vielleicht gerade noch als glücklich
durchgehen, aber die Jungen, die aus einem Versandhauskatalog Bilder mit
Modellen für Unterwäsche und Miederwaren ausgeschnitten hatten, waren zumindest
teilweise unglücklich – und unrettbar verloren war, wer Fotos von gänzlich
nackten Frauen besaß. Je dichter das Schamhaar der Frauen, desto unglücklicher
der Junge; je dicker der Zensurbalken über der Frauenbrust, desto trauriger der
Zögling.
»WIE KANN MAN
GLÜCKLICH SEIN, WENN MAN DIE GANZE ZEIT NUR DARAN DENKT, ES ZU TREIBEN ?« fragte
Owen.
Mir war der Gedanke lieber, daß die Zimmer, die wir durchsuchten,
vor allem planlos eingerichtet waren und weniger aussagekräftig, weniger
enthüllend, als Owen dachte – schließlich sollten es ja eigentlich Mönchszellen
von Schülern sein, die hier nur eine vorübergehende Bleibe hatten; sie waren
ein Mittelding zwischen einem heimeligen Nest und einem Hotelzimmer, kein
fester Wohnsitz, und was wir dort fanden, war unordentlich und alles
deprimierend gleich. Selbst die Bilder der großen Sport- und Filmhelden waren
die gleichen, von Zimmer zu Zimmer; und von Junge zu Junge fanden wir ähnliche
Erinnerungsstücke an Dinge, die sie vom Leben zu Hause vermißten: das Foto
eines Autos, hinter dessen Steuer der stolze Schüler saß (die Zöglinge der
Gravesend Academy durften weder selbst Auto fahren noch mitfahren); das Foto
eines völlig normalen Hinterhofes; oder sogar ein Schnappschuß von so privatem
Charakter – eine verschwommene Gestalt, die sich, uns den Rücken zugewandt, aus
dem Bild entfernen will – daß der Gehalt des Fotos in einer persönlichen
Erinnerung verschlossen blieb. Die Wirkung dieser Zellen mit den auf
erschreckende Weise immer wieder gleichen Zeichen vom Heimweh der Jungen, und
auch das Chaos des [226] ständigen Hin und Her
hatte Owen im Sinn gehabt, als er zu meiner Mutter sagte, Internate seien ETWAS SCHLECHTES.
Seit ihrem Tod hatte Owen bisweilen angedeutet, die stärkste Kraft,
die ihn dazu drängte,
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