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P. S. Ich töte dich

Titel: P. S. Ich töte dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Kräfte im Gleichgewicht sind.
    Das Jahr, in dem Arlen Wagner sich seiner »Gabe« zum ersten Mal bewusst wurde, das Jahr, in dem der Fluch kam, das Jahr, in dem Gut und Böse miteinander verschmolzen und die Welt auf eine Art und Weise den Verstand verlor, dass sie nie wieder ihr Gleichgewicht finden würde – das Jahr bleibt in diesen Bergen als das Jahr des Fiebers und des Krieges in Erinnerung. Zumindest bei den wenigen, die sich überhaupt noch an die Ereignisse erinnern. Manche werden sie nie vergessen. Heute sind sie Geschichte, eine Legende, und jeder, der den Namen Wagner mit dem Jahr des Fiebers verbindet, erinnert sich an Isaac Wagner, und nicht an Arlen. Isaac, der Vater – der Verrückte. Arlen, der Junge, der Sohn – derjenige, der das Richtige tat.
    Ansichtssache, müssen Sie wissen. Reine Ansichtssache.
    Das Fieber schlug zu in diesem Sommer, in dem das Blutvergießen in Europa einen neuen Höhepunkt erreichte und die Rufe nach Hilfe aus Amerika mit der steigenden Zahl von Opfern immer lauter wurden. Jungs aus der Stadt zogen in den Krieg, und die Gedanken der Einheimischen drehten sich vermutlich um nichts anderes; doch dann brach die Krankheit aus, und auf einmal schienen die Sorgen jenseits des Ozeans viel weiter entfernt. Isaac Wagner, der städtische Sargmacher und Leichenbestatter, war ein vielbeschäftigter Mann. Im Juli starben 19 Menschen, in der ersten Augustwoche weitere 22. In der zweiten Augustwoche waren es nur fünf – das Fieber hatte sich selbst ausgebrannt –, doch unter den letzten Opfern war Isaacs Frau. Die Einheimischen waren überzeugt, dass er ihren Tod nicht verwinden konnte.
    Arlen glaubte das auch.
    Der Sommer verging, und mit ihm verschwand die Krankheit. Der Herbst kam. Die Blätter fielen von den Bäumen, und schließlich ging es auf den Winter zu. In der Stadt wurden wieder Weihnachtslieder angestimmt, doch diesmal mit feierlichem Ernst, denn die Geißel des Sommers hatte sich fest ins Gedächtnis eingegraben.
    Es würde ein harter Winter werden, meinten die Einheimischen, doch längst nicht so schlimm wie der Sommer. Der Sommer hatte so viele dahingerafft. Und er hatte Arlen Wagner einen Teil seiner Jugend geraubt. Der Winter würde die Erinnerung daran wachhalten.
    Die ersten besorgniserregenden Anzeichen waren in jenen schmerzvollen Wochen aufgetaucht, als die Totengräber viel zu tun hatten, Arlens Mutter krank wurde und kurze Zeit später verstarb. Isaac verbrachte mehr Zeit in seiner Werkstatt, vor allem nachts, wo eine Störung durch Kunden unwahrscheinlich war. Der Raum befand sich direkt unter Arlens Schlafzimmer, und die Geräusche drangen zu ihm herauf, kaum gedämpft von der dünnen Holzdecke, die dazwischenlag. Der Klang der Werkzeuge, mit denen sein Vater das Holz bearbeitete, war ihm vertraut – schließlich bildete die Möbelschreinerei den Haupterwerb seines Vaters, und nur nebenbei betrieb er noch ein bisschen Landwirtschaft –, und manchmal konnte Arlen hören, wie Isaac vor sich hin summte oder gelegentlich ein paar Wörter auf Deutsch – seiner Muttersprache – brummelte. Die Zwiegespräche jedoch waren eine völlig neue Wendung.
    Sie begannen kurz nach dem Tod von Arlens Mutter, und zwar immer dann, wenn Isaac dabei war, einen Sarg herzurichten. In jenen langen, angenehmen Wochen, in denen niemand gestorben und wieder ein gewisses Maß an Frieden in die Stadt eingekehrt war, ruhte das Geschäft seines Vaters. Aber irgendwann würde der Tod wieder zuschlagen, die Stadtleute würden nach Isaac Wagner rufen, und er würde sich zurückziehen, mit seiner Arbeit beginnen – und sprechen.
    Arlen sagte sich, dass es sich um einen Trauerprozess handelte, dass sein Vater gegen den Verlust ankämpfte und versuchte, auf seine Art damit fertigzuwerden, genau wie Arlen selbst.
    Er ignorierte die Zwiegespräche.
    Solange es ihm möglich war.
    Doch die Holzdecke war ziemlich dünn, und die Stimme seines Vaters dröhnte tief und laut. Die Worte drangen an sein Ohr. Arlen konnte nicht anders, als seinem Vater zu lauschen. Erst wenige Wochen zuvor hatte er begonnen, seine Aufmerksamkeit auf die drei Worte zu richten, die sein Vater wieder und wieder ausstieß, und ein Schauer fuhr ihm über den Rücken.
    Sag es mir,
brachte Isaac Wagner heraus.
Sag es mir.
    Je länger Arlen seinem Vater zuhörte, desto klarer erschien es ihm, dass dieser versuchte, mit den Toten zu sprechen. Und nicht nur versuchte – er glaubte, dass sie ihm antworteten. Die

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