P. S. Ich töte dich
Worte, die aus seinem Munde kamen, waren Teil einer Verwandlung.
Es hatte mehrere solcher Zwiegespräche gegeben, ehe Arlen es wagte, hinunter in den Laden zu gehen und selbst nachzusehen. Was ihn erwartete, war verstörend: Isaac sprach mit den Leichen. Dabei stand er über ihnen und drückte seine Handflächen flach gegen ihre Brust oder ihre Wangen. Sobald er fertig war, zog er seine Hände weg und kehrte schweigend an seine Arbeit zurück. Er sprach kein einziges Wort, außer wenn er seine Hände auf das Fleisch der Toten presste.
Außerhalb seiner Werkstatt war er ein völlig anderer Mensch, sowohl gegenüber Arlen wie auch zu den Einheimischen. Mürrisch und unberechenbar, äußerte er gern wunderliche Ansichten und kümmerte sich nicht um die Sorgen der Lebenden.
Das war wenige Monate ehe Arlen sich eingestehen musste, dass sein Vater dabei war, seinen Verstand zu verlieren. Gerüchte schwirrten durch die Stadt, nachdem ein Mann mit verweinten Augen und einem Kinderspielzeug in der Hand das Geschäft betreten hatte, um Isaac zu fragen, ob er es zu seiner Tochter in den Sarg legen könne, und ihn in seiner mittlerweile gewohnten Stellung gefunden hatte: über den Körper des toten Mädchens gebeugt und beide Hände an ihre Wangen gepresst wie ein Pfarrer, der einen Segen erteilt. Dieser Anblick brachte den trauernden Vater gewaltig in Rage, und es kam zu einem hitzig geführten Wortgefecht. Isaac unternahm nichts, um den Mann zu besänftigen. Er sagte ihm lediglich, dass er sich in seinem Laden unterhalten könne, mit wem er wolle. Das war Öl auf das Feuer der Verdächtigungen, die bereits in der Stadt kursierten.
Was sollte man mit einem Vater machen, der wahnsinnig war? Diese Frage ließ Arlen Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Sie waren jetzt nur noch zu zweit; es gab keine andere Familie in der Stadt, die mit Isaac hierhergekommen war, und Arlens Mutter konnte nach der Geburt ihres einzigen Kindes keine weiteren mehr bekommen. Es gab keinen Freund oder Vertrauten. Er hörte, wie sein Vater mit den Toten sprach, und überlegte, was passieren könnte, wenn er Hilfe suchte, wenn er irgendjemandem in der Stadt die Wahrheit erzählte. Und er entschied sich dafür, dass es besser wäre, nichts zu sagen. Schließlich kam dabei niemand zu Schaden. Sicher, es war seltsam, beunruhigend und verwirrend, aber es schadete niemandem. Er nahm sich vor, etwas zu unternehmen, wenn es jemals so weit kommen sollte.
An einem Tag kurz vor Weihnachten starb Joy Main. Auf drei frostige Nächte war eine kurze, warme Atempause gefolgt und von einem kalten Wind wieder vertrieben worden. Drei Wochen lang war niemand in der Stadt gestorben. Isaac fertigte Möbel anstelle von Särgen, und Arlen war in etwas Ähnliches wie einen friedlichen Zustand geschlüpft. Nachts wurde sein Schlaf nicht mehr von Stimmen aus dem Erdgeschoss unterbrochen. Die dunklen Ringe um die Augen seines Vaters waren fast verschwunden, und seine seltsamen Bemerkungen hatten nachgelassen. Dann brachten sie Joy Mains Leiche in die Werkstatt.
Die Mains gehörten zu den einflussreichsten Familien der Stadt. Edwins Vater war Landvermesser – und ein verdammt gerissener Hund. Er hatte darum gebeten, ihm seinen Lohn in Form von Land auszubezahlen, und dem wurde stattgegeben. Da er ein Auge für guten Boden hatte, suchte er sich große Parzellen entlang des Flusses und in den angrenzenden Schluchten aus. Das Land war reich an Kohle und Nutzhölzern, eine wunderschöne Gegend, die bald reich werden sollte. Als Edwin heranwuchs, war der Bergbau auf dem Höhepunkt, und sein ererbter Besitz machte ihn zu einem wohlhabenden Mann. Er blieb in Fayette County und füllte die Lücke aus, die sein Vater hinterlassen hatte. Er war groß, von massigem Körperbau, trat meist wichtigtuerisch auf, konnte aber auch charmant sein, wenn es Anlass dazu gab. Häufig war er jedoch gemein und brutal, und es schien, als ob die Stadtleute nichts anderes von ihren führenden Köpfen erwarteten.
Joy Hargrove war das hübscheste Mädchen weit und breit, immer fröhlich und aufgeweckt, eine begnadete Klavierspielerin, gesegnet mit einer wunderschönen, bewegenden Stimme, die während der Sonntagsgottesdienste nicht selten dazu führte, dass sich die Leute nach ihr umdrehten. Die Hochzeit zwischen den beiden war arrangiert – Joys Vater konkurrierte mit Edwin um den Ankauf einer vielversprechenden Mine. Die Brautwerbung wurde von ihm sehr unterstützt, obwohl Edwin die 40 schon
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