P. S. Ich töte dich
zu viel herausgefunden habe.
Euer Pech: Sobald ich tot bin, kann ich den Unterbrecher-Code an einem bestimmten Apparat nicht mehr eingeben. Dann wird etwas in Gang gesetzt, was zu meiner Rache führt! Unweigerlich! Ich habe meine Möglichkeiten gründlich genutzt, glaub mir! Ich war gut in meinem Beruf.
Wenn du diese Zeilen liest, ist es zu spät. Diese Woche wirst du nicht überleben. Meine kleinen Botschaften an euch werden von einer freundlichen Seele überall im Haus deponiert; sie sollen euch vorbereiten!
Erinnerst du dich? Ich sagte dir so oft, dass ich nicht als Einzige sterbe. Jedes Mal, wenn du im Scherz davon gesprochen
hast, mich umbringen zu wollen, sagte ich es dir.
Ich hatte recht.
P. S. Ich töte dich.
Es war sekundenlang totenstill in der Leitung.
Adalbert Weiß zitterte. »Ilona, was war Frau Becker-Heisel von Beruf?«, krächzte er.
»Chemikerin und Biologin«, antwortete sie piepsig. »Sie hatte einen Professorinnentitel.«
»Rufen Sie die Polizei an und zeigen Sie denen die Seite! Die sollen sofort was unternehmen!« Er erhob sich panisch. »Und Heisel … den rufen Sie natürlich auch an! Warten Sie … geben Sie mir seine Nummer, ich versuche es selbst.« Mit einer Hand kritzelte er die Zahlenfolge auf den kleinen Hotelnotizblock.
»Aber … im Haus in der Lagerstraße …«
»Tun Sie es! Ich komme mit dem nächsten Flug zurück.« Weiß knallte vor lauter Anspannung den Hörer auf. Dann begann er, mit fahrigen Bewegungen seinen Koffer zu packen.
Seine Warnanrufe bei Heisel wurden vom Anrufbeantworter angenommen. Weiß sprach den Speicher voll und bat das Schicksal unentwegt, dass es für den Mann noch nicht zu spät sei.
◊
Ilona legte auf. Lächelnd.
Sie nahm das letzte Blatt des Testaments, schob es in eine Klarsichthülle und warf sich den Mantel über. »Ich gehe rasch zur Polizei. Der Chef meinte, ich soll das hier hinbringen.« Sie hob das Papier. »Könnte wichtig für das Gemetzel in der Lagerstraße sein.«
Ihre Kollegin Müller-Rüblein hob neugierig den Kopf. »Echt?«
»Ja. Erzähle ich dir später. Ich habe eine Kopie der Seite gemacht, liegt auf meinem Schreibtisch. Das wirst du nicht glauben.« Sie grinste, und Müller-Rüblein zeigte den in die Höhe gereckten Daumen.
Keine halbe Minute später war Ilona auf der Straße. Gegen das Lächeln auf ihrem Gesicht konnte sie nichts machen: Sie war glücklich und voller Genugtuung.
Ihr Chef hatte das Blatt nicht übersehen – sie selbst hatte es entfernt und am Telefon überzeugend als sein Verschulden hingestellt. Aus gutem Grund.
Ilonas Vater war ein sensibler, zurückhaltender Mann gewesen, der sich nach zehn Jahren Gefängnis auf seinen Job gefreut hatte. Es sollte ein Neuanfang werden. Ehrbar, ohne krumme Dinger, mit körperlicher Arbeit.
Doch das Haus in der Lagerstraße hatte sich für den Hausmeister als Hölle entpuppt: hämische Anfeindungen, überzogene Kritik, bösartige Gemeinheiten – die Bewohner waren erfindungsreich, wenn es darum ging, den Ex-Knacki, den Abschaum, den Gesellschaftsbodensatz zu mobben. Er hatte es ertragen, für die Anstellung, bis es zu viel wurde. Das ehrenwerte Haus hatte ihn in den Selbstmord getrieben. Sein Freitod hatte Ilona schwer getroffen.
Als ihr Becker-Heisels Testament bei der Vorbereitung zufällig in die Hände geriet, wusste sie, wie sie Rache nehmen konnte …
Ilona bog in die Eisenbahnstraße ein und hielt auf das Polizeigebäude zu. Sie bemühte sich, die gute Laune aus ihrem Gesicht zu verbannen und aufgeregt zu wirken. Schließlich hatte sie die Lösung für eines der brutalsten Verbrechen im Saarland, wenn nicht sogar in ganz Deutschland, in der Tasche. Wer die freundliche Seele gewesen war, die die kleinen Zettel in den Wohnungen verteilt hatte, wusste sie nicht. Vielleicht eine Freundin von Becker-Heisel? Ihr war es egal. Das Resultat zählte.
Sie konnte sich die Verblüffung der Polizeibeamten ausmalen. Die letzte Seite des Testaments von Sabine Becker-Heisel, verschlampt von Adalbert Weiß, würde die rätselhaften Vorgänge in der Lagerstraße erklären. Niemand würde Ilona damit in Verbindung bringen. Dabei hatte sie die Menschen in diesem ehrenwerten Haus sterben lassen. Wissentlich. Für ihren Vater.
Und sie fühlte sich großartig!
Der Winter nimmt alles
Michael Koryta
M anches ist eine Gabe, manches ein Fluch – und der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass diese Dinge weit auseinanderliegen, zwei gegensätzliche Pole bilden,
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